Als die 16-jährige Maya ihrem Vater sagt, dass sie in drei Wochen ein Kind gebären werde, missversteht sie der Vater und teilt der Mutter, die sich gerade in einer anderen Stadt befindet, mit, die Tochter sei in der dritten Woche schwanger. Die Mutter stellt zwei entscheidende Fragen, die die Tochter verneint: “Liebst du ihn?” und “Liebt er dich?”. “Dann”, schlussfolgert die Mutter, “werden wir nicht drei Menschenleben zerstören, sondern dieses wundervolle Baby kriegen.”
Eindrückliche Szenen wie diese gibt es in dieser ersten von insgesamt sieben Autobiografien von Maya Angelou am laufenden Band. Es ist ein ergreifendes Buch über das Aufwachsen eines aussergewöhnlichen schwarzen Mädchens in den USA der Fünfzigerjahre sowie über die Geburt der Legende Maya Angelou, die 2014 nach einem lebenslangen Wirken als Zivilrechtlerin, Lyrikerin, Schauspielerin sowie als Universitätsprofessorin achtundachtzigjährig gestorben ist und ein umfangreiches Oeuvre hinterlässt.
Im Alter von 7 Jahren wurde Angelou vom damaligen Freund ihrer Mutter vergewaltigt. Als sie erfährt, dass dieser, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, zu Tode geprügelt wurde, zieht sie einen folgenschweren Schluss: Sie beschliesst, nicht mehr zu reden. Denn sie ist der Ansicht, sie selbst habe den Tod des Mannes verursacht, dadurch dass sie seinen Namen ausgesprochen habe.
In den fünf darauffolgenden Jahren des Schweigens findet Angelou Zuflucht in der Literatur. Sie lernt reihenweise Shakespeare-Sonnette auswendig, liest Balzac, Maupassant sowie schwarzafrikanische AutorInnen. Aus dieser Lesewut, die geradezu obsessiv gewesen sein muss, speist sich ihr literarisches Gesamtwerk sowie auch dieses Buch. Man findet darin Liedverse aus der afrikanischen Volksfrömmigkeit des 19. Jh., Witze sowie ein scharf analysiertes Porträt der US-amerikanischen Gesellschaft. Es ist ein Zeitzeugenbericht, umfassend, bodenständig und bestimmt, jedoch ohne eine Spur Bitterkeit.
Im Jahr 1993 hält Angelou die Einsetzungsrede für Präsident Bill Clinton. “A rock, a river, a tree”, sind die ersten Worte des Prosagedichts, das sie vorträgt. Drei Naturvorkommnisse, deren Beständigkeit im Gegensatz zur Brüchigkeit des Amerikas stehen, das Angelou in ihrer Autobiografie aufzeigt. Ein Beispiel für diese Brüchigkeit ist ein Gottesdienst, der aus einem wackeligen Altar besteht und der in einem spärlichen Zelt gefeiert wird. Hier und nicht etwa in den prächtigen Kirchen der weissen Elite, trifft sich die Glaubensgemeinschaft der Schwarzen. Angelou spürt und weiss: Halt findet sie nicht in der Vorläufigkeit religiöser Rituale, sondern in der Geschichte ihrer Ahnen, an deren Faktizität von Sklaverei und Unterdrückung nicht gerüttelt werden kann. Wahrheit ist das, was so und nicht anders war - sie kommt nicht von Dogmen, sondern ist das Baumaterial der Geschichte, der individuellen wie der kollektiven.
“I stand here alone, but I come as ten thousands”, ist Maya Angelous Lebensmotto, das bedenkenlos auf diese Autobiografie angewendet werden kann. Hier spricht ein autobiografisches Ich über seine Verquickung mit der kollektiven Geschichte sowie über sein Potential, dieser Geschichte im Bündnis mit Gleichgesinnten eine neue Wendung zu geben. Bei aller Tragik ist dies ein hoffnungsspendendes Buch, aufrüttelnd und eindrücklich geschrieben.