Bryan Stevenson ist ein aufstrebender Anwalt, der nach einem Sinn für seine juristische Begabung sucht. In diesem Buch gibt er Einblicke in das bekanntermassen gnadenlose Rechtssystem der USA. Jeder dritte Afroamerikaner wird irgendwann im Laufe seines Lebens eines Verbrechens angeklagt. Stevenson möchte sich für die Opfer der amerikanischen Justiz einsetzen und gründet dafür die gemeinnützige Organisation “Equal Justice Initiative”.
Der Buchtitel “Just Mercy” ist Programm. Es geht dem Autor einerseits um gerechte Gnade, andererseits aber auch darum aufzuzeigen, wie weit die USA noch von dieser gerechten Gnade entfernt sind. Dazu macht er kleine Abstecher in die Rechtsgeschichte, beispielsweise in ein Urteil des Alabama Supreme Court aus dem Jahre 1882, das den Ehebruch als umso schlimmer einstufte, wenn er mit jemandem aus einer anderen Rasse begangen wurde, da dies zur Entstehung einer “degradierten Bevölkerung” führe. Stevenson zeigt, dass dieses Denken in den USA weiterhin vorherrscht. In anschaulichen Szenen, bedeutungsvollen Kurzdialogen sowie poetischen Passagen wie Gebeten und Selbstgesprächen erzählt Stevenson von Menschen, die zu Unrecht zur Todesstrafe verurteilt wurden, darunter ein vermeintlicher Serienmörder, den er, Stevenson, befreien konnte.
Stevensons philosophisches Interesse kommt deutlich zum Ausdruck. Es geht dem Autor offenbar nicht nur um das Aufzeigen von Missständen, sondern um ein grundsätzliches Nachdenken über den gesellschaftlichen Umgang mit Schuld, Strafe und Vergebung, der in den USA des 21. Jh. noch immer wie im 19. Jh. abläuft. Jeder Mensch, so das Fazit des Buches, ist mehr als das Schlimmste, was er jemals angerichtet hat.
Mich hat das Buch aufgrund seiner unaufdringlichen Tiefgründigkeit, des sachlichen Stils und der Aktualität der Fragestellung gepackt.