Gery
Dass sich die beiden Frauen am Ende der Geschichte befreien würden, wird ja bereits bei der Buchbeschreibung vorweggenommen. Nichts aber bereitet einem darauf vor, wie sie es tun (wobei, wenn man bedenkt, dass der Debütroman der Autorin “Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden” heisst, muss man wohl mit allem rechnen🤔). Und sofort begibt man sich in eine moralische und rechtliche Grauzone, die einem nachdenklich zurücklässt. Und nicht nur uns, auch die beiden Frauen. Ist es wirklch die Befreiung, nach der sie sich so sehr sehnten, wenn sie nun das schlechte Gewissen plagt? Denn es ist so viel mehr als nur die Tatsache, dass sie nie gelernt haben, frei zu leben, die sie blockiert… sie müssen damit leben, was sie getan haben. Und als Aussenstehende fragt man sich letztlich halt doch: war das jetzt wirklich nötig? Vor allem das mit dem im Wald aussetzen eines pflegebedürftigen Menschen. War dies wirklich die einzige Möglichkeit, sich zu befreien? Aber andererseits haben diese beiden Frauen beide so viel Gewalt und Erniedrigung über ihr ganzes Leben ertragen müssen, sei es aus Angst, um den Schein zu wahren oder weil sie es nicht anders gelernt haben, selbst wenn sie in mancherlei Hinsicht mit den Konventionen gebrochen haben, wie es ihre eigenen Mütter noch nicht konnten. Wenn man über die Jahre so viele physische und psychologische Gewalt erträgt, so viel in sich hineinfrisst an Negativität, ist es irgendwie auch nicht verwunderlich, wenn auch der Befreiungsschlag eben heftig wird und nicht ohne Gewalt auskommt. Ein ungutes Gefühl aber bleibt…
Interessant ist indes wirklich, wie andere Frauen zu Mitwisserinnen oder sogar Komplizinnen werden. Nicht nur die beiden Enkelinnen, sondern sogar die Pflegerin. Zunächst wusste ich nicht, ob es die Pflegerin wirklich verstanden hatte, oder ob sie einfach nur sah, dass sie den Kaffee zubereitete, und fand in ihrer Bemerkung über den starken schwaren Kaffee eine gewisse dunkle bittere Ironie. Aber spätestens ab dem Besuch der Enkelin wird klar, dass die Pflegerin sehr wohl alles verstanden hatte. Und trotzdem käme es auch ihr nicht in den Sinn, die Polizei zu verständigen oder sowas. Schliesslich hat sie das abscheuliche Verhalten des Mannes selbst mitbekommen und nachher die Wunden der Frau verarztet.
Ich denke, das Buch regt einem dazu an, über Lebensläufe von Frauen in unserer Kultur genauso wie anderen Kulturen nachzudenken, und hält einem die Universalität patriarchaler Gewalt vor Augen. Und es führt unweigerlich dazu, dass man über Lebensläufe von Frauen (und nicht nur von Frauen) in der eigenen Familie nachzudenken beginnt und sich wieder einmal mehr bewusst wird, wie sehr heutige Freiheiten und Selbstbestimmungen auch nur deshalb möglich sind, weil Frauen (und auch Männer!) vor uns mit solchen Konventionen der Unterdrückung und der Gewalt gebrochen haben, wenn auch wohl in den wenigsten Fällen auf so drastische Weise wie hier im Buch beschrieben. Noch einmal lesen würde ich das Buch aber wahrscheinlich nicht, weil es eben keine entspannende Lektüre ist und letztlich das Ende trotz der Befreiung eben nur bedingt hoffnungsvoll stimmt sondern eher nachdenklich. Zudem nimmt für mich letztlich die ganze Gewalt und die Krankheiten, die Erwartung des Todes und die Fäkalien zu viel Raum ein. Vielleicht hätte ich mir insgeheim mehr Inspiration und emanzipatorische Kraft gewünscht und stattdessen überwiegen Nachdenklichkeit und ein unangenehmes Gefühl. Aber vielleicht ist es ja genau das, was das Buch will?
Ich kann keine Grossmutter heraustrennen, die mich mehr berührt hat. Sie sind verschieden und letztlich doch ähnlich. Teilweise habe ich das Gefühl, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung sei bei der Afrikanerin stärker als bei der Schweizerin, bzw. es sei früher eingetreten. Vielleicht spielt der Klassenunterschied hier doch eine Rolle. Die Schweizerin wiederum fühlt sich näher an, weil ich in ihr mir in Teilen gut irgendeine Vorfahrin oder eine Mischung aus mehreren vorstellen kann oder eine Frau bei uns im Dorf.
Die Biografien beider Frauen scheinen mir sehr stark geprägt zu sein zwischen dieser Spannung zwischen der Tradition und dem Streben nach Selbstbestimmung. Teilweise übertragen sie die ungerechten Strukturen weiter auf die nächste Generation, dann wieder wird ihnen bewusst, wie ungerecht es ist, und sie treffen mutige Entscheidungen, die diese Übertragung der Gewalt oder der Unterdrückung von Generation zu Generation unterbrechen. Dann wieder müssen sie die Konsequenzen tragen hierfür, was sie erstaunlicherweise mit sehr viel Würde tun. Es gelingt ihnen scheinbar, für ihre Nachkommen ein befreiteres Leben zu ermöglichen trotz der Gewalt des Mannes. Dank ihnen erfolgt die Befreiung der Kinder und eher noch der Enkelkinder schon relativ früh. Aber beide sind lange nicht in der Lage, sich selbst ebenfalls zu befreien von dieser Gewalt. Interessant ist es auch, dass zumindest die Schweizer Grossmutter durchaus auch kritisch gegenüber der Enkelin und ihrer Lebenseinstellung zu sein scheint, also nicht nur Genugtuung empfindet wenn sie deren Freiheit sieht geschweige denn sich selber in ihr sieht unter anderen Umständen. Und auch die afrikanische Grossmutter scheint nicht zu verstehen, warum ihre Enkelin alleine lebt.