TEIL 1 pp. 7-111
Selten vergebe ich 6* für ein Buch. Dieses Jahr haben es nur die Lektüren von zwei Klassikern geschafft: Camus «La Chute» und Bradbury «Fahrenheit 451». Gundar-Goshen komplettiert — zumindest in den spannenden 12 Kapiteln des gelesenen ersten Teils — dieses Duo. Dieser Aufbau, diese Vereinigung der Erzählstränge, diese Tiefe der Charaktere…
Gegensätze, Parallelen wühlen den Plot auf. Ich habe seit langem keinen Krimi mehr gelesen, fühlte mich aber ins Buch hineingezogen wie bei der Lektüre eines page-turners.
Und die Andeutungen, Missverständnisse beginnen schon mit dem ersten Satz: „Wie alt ist sie?“
Diese Frage wirft uns mitten in den Konflikt: Zwei Kulturen, die sich begegnen, einander aber nicht verstehen. Auf der einen Seite Angst, gar Hass, (wechselseitiger Hass war hier im Spiel, der Terrorist hasste seine Angreifer, und diese hassten ihn, p.50), auf der anderen Seite bescheidene Neugier.
Und da ist Uri als Spielball der Parteien, aber vor allem als Katalysator der Handlung. Er, der alles herunterzerrt, Gläser und Vasen zerbricht, er wird vom Araber beruhigt — Parallelen dazu: sein Sohn wendet denselben Zungenschnalzer an.
So verklemmt Naomi auf ihren Sohn losgeht, so befreit nähert sich ihm der Araber (hat bei Camus in «L’étranger» nicht mal einen Namen, hier geht es einige Seiten, bis wir ihn erfahren**).
„Dinge, mit denen fremde Menschen Uri eventuell beruhigen können, während er bei mir nur noch heftiger schreit.“ p.9
Man mag sagen, dass die aktuelle politische Lage im Nahen Osten schon allein für Spannung sorgt, aber wie die Autorin diese festhält und ihre Geschichten in diese unheimliche Atmosphäre einbindet, schlicht gute Literatur: Schon nur die Wahl der Adjektive in der Beschreibung des Dorfes — Das grüne Licht der Moschee flimmerte BOSHAFT, vielleicht sogar TEUFLISCH….p.64 — man fühlt sich in den Köpfen der Israelis. Als Gegensatz dazu das Geschehen in Saids Mentalität: Im Dorf angekommen veränderte sich etwas an seinem Äusseren. Seine Sicherheit kehrte zurück. p. 67
Eng wird es, wenn sich die Kulturen auf engem Raum treffen: Wer ist denn dieser Mann, denn Juval in ihre Wohnung gelassen hat? p. 12 und: Wer holt denn einen arabischen Arbeiter ins Haus und lässt seine Frau mit ihm allein? p.31
Womit wir beim Kernthema sind: Das Verständnis für andere Kulturen geht völlig ab. Stas: Der wird aufräumen…all diese arabischen Maniacs rausschmeissen, und die Scheissheinis aus Afrika gleicht mit. p. 22. Diese Verhärtung: Ist es nicht symptomatisch, dass Saids Gastgeschenk für Nuri eine Versteinerung ist?
Man mag sagen, dass die Autorin erfolgreich zu unvorhergesehenen Twists greift. Aber die sind alle glaubhaft eingebaut: Der Hammer — das schusselige Kind und die Vorahnung: hätte nicht gedacht, dass er mit der Hand so hoch raufreichen würde, p. 14—, die Reifenpanne — die schlechte Strasse —, das Verschwinden des Kindes — geradezu ein Steilpass —, die Hundemeute (auch hier wieder eine Umkehr der Situation: diesmal rettet Said Juval vor den Kötern, vorher war der Jude der Retter gegen den Mob)— ein jüdischer Eindringling in unserem Revier.
Hingegen sind die Aussagen der Protagonisten doch nicht so glaubhaft: Er müsse lernen, ein bisschen zu lügen, zumindest was weisse Lügen anging, und dies kam ihm wie eine weisse Lüge vor.p.21 Und sogleich macht Gundar-Goshen in Ironie: Es ist eine Lüge, die du einem Weissen erzählst, oder? Dann ist es eine weisse Lüge. p.24
Ein gelungener erster Teil, ein Schreibstil der mich gepackt hat, gute stilistische Vergleiche, wie z.B: Und er strahlte eine merkwürdige Hitze aus, als hätte jemand Kohlen unter seiner Haut angezündet. p. 55
Überhaupt das Motiv des Titels: Da ist die initiale Situation beim Kaffee in Israel, die sich spiegelt im arabischen Dorf, da ist Avrams Aufnahme bei (seinem Ziehvater?) Stas und sein missbräuchlicher Einsatz bei der Plakat-Klebe-Aktion, Avram als Eindringling in der Plakat-Kleber-Szene, und da ist schliesslich Arik, das Opfer des Hammerschlages, der zwischen Vater und Mutter, zwischen Israel und Russland hin- und hergeschoben wird.
Immer wieder flackert die Spannung auf: Stas‘ Plan mit den Molotov-Cocktails, das ungute Gefühl, welches Tarek verbreitet; man ist sich nicht einmal sicher, ob er Uri entführt hat. Dann Naomis Gewissensbisse…Unterdessen spürte sie ständig den düsteren Blick des ältesten Sohnes auf sich lasten. Ein beängstigender Gedanke: Er verstand. P. 90
Ich bin gespannt auf den zweiten Teil, bin gespannt, ob die Schriftstellerin dieses Niveau halten kann oder die Spannung in sich zusammenfällt wie der Hammer vom Balkon. Auf jeden Fall hat der 1. Teil die Fallhöhe extrem hoch angesetzt.
Und das Wichtigste, wie geht Naomi mit der Schuld um? Auch hier wieder eine dieser umwerfenden Parallelen, zu Uris vorübergehendem Verschwinden: Sie müssten sich schuldig fühlen, schliesslich hatten Hiba und sie die Kinder ihrer Obhut überlassen. p.94
Exzellente Ausgangslage für weitere fesselnde Seiten.
Je länger ich analysiere, desto wahrscheinlicher vermute ich, dass der ungebetene Gast Uri ist, mit dessen Präsenz Naomi schlicht überfordert ist. Eine frühe Textstelle liefert den ersten Hinweis: Seit Uris Geburt hatte sie einen Schalter im Kopf, der ihren Unmut vom Sohn auf den Ehemann ableitete, eine Erdung für Feindseligkeit. p. 9
Und: Es geht um Uri. Es ist alles wegen Uri. p.46
Schon früh beklagt sie sich, dass Juval sie allein mit dem Arbeiter im Haus lässt, dann werden immer wieder ihre Nippel erwähnt und der Verdacht entsteht, dass sie den Sohn gar nicht entwöhnen, sondern von sich abhängig machen will. Beim Besuch der arabischen Familie steigert sich die Handlung ins Psychodrama: Die ganze Situation war total verrückt. Uri und die Kleine spielten auf dem Teppich, zum Kichern der Zwillingsschwestern. Naomi lobte das Essen, das die Mutter des Hauses zubereitet hatte — und dabei assen sie ja jetzt im Haus eines Terroristen…..p.86
PS: Es würde mich nicht wundern, wenn der nächste Literaturclub auf DRS dieses Buch vorstellt; verdient hätte es dies.
**Kamel Daoud hat ein wunderbares Buch darüber geschrieben: «Der Fall Meursault», in dem er sich genau darüber beklagt, nämlich, dass der Araber keinen Namen hat.