Bin gerade ungebeten “begästet” worden: Compi-Absturz….
Zusammenfassung 2. Teil, pp.102-206
Nach dem atemberaubenden, in staccato geschriebenen ersten Teil — ich fragte mich, ob die Autorin diesen reisserischen Stil beibehalten kann — glaubt man, ab Kapitel 12 langsam in eine andere Welt einzutauchen: nicht nur geographisch, weg von Israel, hin nach Nigeria, wo einem niemand kennt, auch handlungsmässig: Der rasante, von viel Gewalt durchtränkte Plot verlagert sich ins Innere der Protagonisten. Und selbst im tiefsten Inneren verschieben sich Grenzen: Vergessen der Araber, der vermutlich den Sohn des Lebensmittelhändlers getötet hat, vergessen die Rache, die den vermeintlichen Tod der Familie des Täters hätte töten sollen. Für Sigmund Freud war klar: Verdrängte Traumata verschwinden nicht, sie tauchen einfach in neuer Form wieder auf, als Ängste, Neurosen oder Depressionen. Und diese Verdrängung ist gefährlich, denn statt verpflichtendes Handeln tritt ein Zustand der Lähmung ein. Diesen Vorgängen widmet sich der 2. Teil.
Endet das 1. Kapitel mit etlichen Cliffhangern (Andeutungen, was geschehen könnte, Schilderung spannender Situationen, welche aufgegriffen, angetönt, aber unterbrochen werden und erst später erläutert werden), greift Gundar-Goshen in diesem Kapitel zur Prolepse (stylistische Figur, die einen Zeitsprung macht und verrät oder zumindest ankündigt, was passieren wird), wie auf p. 115: Sie konnte den Jungen auf Anhieb nicht ausstehen.
Dieses Stilmittel findet sich auch auf p. 133:…spürte sie erneut, dass dieser Familie etwas zugestossen war, vorweggenommen auf p. 126: im privaten Minenfeld dieses Ehepaares.
Dies spürte auch Uri: Vielleicht spürte er etwas von dem unterirdischen Fluss, der zwischen Mama und Papa strömte. Vielleicht ertrank er in ihrer gegenseitigen Feindseligkeit, ohne dass sie es merkten. p. 179
Ich sehe drei grosse Themen in diesem 2. Teil
1. Wer bin ich, wer bist du?
Dieser Identitätssuche ist auch der Titel gewidmet: WAUAATSCHABU: Es war ein riesiger, ausladender Baum, der aus der roten Erde weit in den Himmel ragte. p.199
Ayobami hat den Namen erfunden, Naomi glaubt, um sie zu verwirren.
Und einmal mehr die Frage: Wer ist der ungebetene Gast? Uri, der Naomis Karriere stört ? Der ungenannte arabische Gast (Mohand Abu Eid)? Avram in der Plakatkleber-Szene ? Liam in Nogas Leben ? Juval im Leben der Psychotherapeutin ? Ayobami in Naomis Leben? usw…
Sind wir nicht alle ungebetene Gäste? Den anderen fremd, ihrer Sprache fremd, nicht ihren Erwartungen entsprechend. Sind wir am Ende selbst uns selbst gegenüber fremd? Holt der Titel seine Kraft aus diesem Dilemma?Führen uns diese Überlegungen zur Erkenntnis, dass unser Tun anderen oft ungelegen kommt?
Auch das Titelbild unterliegt dieser Frage: …wenn man einen Schwan von Nahem betrachtet, begreift man, dass das kein zarter Vogel ist, eher ein recht angriffslustiger. p. 163. Auf jeden Fall scheint der auf dem Cover abgebildete Schwan ungebetene Gäste mit ziemlicher Wut vertreiben zu wollen.
Da heisst es also, genauer hinzuschauen, wie in Kap. 9, als sich Omer zur Behandlung meldet. Fragen über Fragen: Araber?, Perverser?, Asthmatiker?, Hilfesuchender…? Nicht so einfach, ihm (wie vielen anderen auch) ein Etikett aufzukleben.
Auch Juval erkennt den Auslöser der Katastrophe in einem lichten Moment: Plötzlich sah er klar den Karriereweg, von dem sie abgekommen war, als sie gleich nach der Anwaltszulassung schwanger wurde. Jetzt sah er die Reste der Naomi, die sie hätte werden können. pp. 183/184
2. Schuld und Sühne
In diesem Prozess wird Uri vom Spielball zum Seismografen, spürt das kleinste Beben zwischen seinen Eltern auf, registriert scheinbar unmerkliche Zwistigkeiten, fühlt sich aber bei anderen Leuten stinkwohl. Er sprengt nicht nur Gläser und Vasen, sondern versetzt auch Grenzen.
Aber auch Nebenpersonen stellen sich ihrer moralischen Verpflichtung nicht: Stell dich nicht dumm, Avram. Du bist ja nicht blöd, du weisst, was er in diesem Dorf anstellen will. p. 106. Nach dem missglückten Brandanschlag überkommen sogar Stas immerhin so etwas wie Gewissensbisse. p. 111. Auch die Therapeutin kann sich nicht entscheiden: Man hätte dieses Treffen gleich zu Beginn abbrechen müssen. p. 122, denn bei ihrem Patienten und Schiri besteht die gleiche krampfhafte Bindung (p.152) wie zwischen Naomi und Uri.
Beim Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe Juval zögert sie erneut: Da, genau in diesem Moment hätte sie reden müssen…p.124
Naomis Prozess wird wie nebenbei abgehandelt, obwohl er das Paar endgültig entzweit: Aber Naomi wusste, dass sie nicht wegen des Arbeiters zur Polizei gegangen war. Sie hatte es getan, weil sie die Stille im Haus nicht mehr ertrug. Schweigend sassen sie im Wohnzimmer. p.161
Dann kommt ab Kap. 10 Tarek ins Spiel: Er will Vergeltung, zumindest finanzielle Wiedergutmachung. So verkörpert er neben verfolgenden Gewissensbissen auch den bedrohlichen Rächer.
3. Aufzählung ungebetener Gäste
Die Aufzählung ungebetener Gäste scheint endlos. Oft sitzen sitzen sie nur im Kopf der Personen, sind nicht physisch präsent, so auf p.102, als Avram Madonnas Anruf in Ariks Wagen wegdrückt:
…fühlte es sich an, als wäre ein Dritter dabei, als wäre der Tod mit von der Partie. p.102
Und Liam wird durch sein Verhalten bei der Therapeutin Noga zum Auslöser von Verunglimpfungen im Netz und zum Stalker. Noga versucht vorerst den ungebetenen Gast abzuwimmeln. Es ist, als ahnt sie, was er bewirkt. Aber er tritt auch in Naomis Leben: Jemand stand im Treppenhaus, direkt vor der Tür (cf. Said im 1. Teil) p.186. Und, dann ist da die schillernde Ayobami, die Naomi gänzlich in ihren Bann zieht: Diese Frau genoss es, sie unter Druck zu setzen. p. 197 und löst nebenbei eine Art Geständnis ihres im Unterbewusstsein verdrängten Versagens aus: Auch in Israel staune ich immer bei einer Frau, die es geschafft hat, sowohl Doktor als auch Mutter zu sein. p. 199
Durch die Person der Traumapsychologin, verkörpert von Noga Belin, schöpft die Autorin aus dem Vollen, wenn sie eigene Erfahrungen schildert. Und, wie der Plot spielt, ist Noga als verlassene Jugendliebe Juvals verknüpft.
Ich versteige mich zur Behauptung, dass am Ende gar der Hammer der ungebetene Gast ist, womit gesagt wäre, wie uns das Schicksal mitspielt.
Ein Stilmittel, neben der genannten Prolepse sind die immer wiederkehrenden Parallelen:
o Noga bricht die „Behandlung“ Liams ab und Juval möchte diejenige Uris beenden, da er sich befangen fühlt.
o Beschreibung der reichen Gegend in Laos im Vergleich zu den Ghettos erinnert an das 1. Kapitel mit dem Vergleich der jüdischen Siedlung mit dem arabischen Dorf.
o Verdrängte Geständnisse: Uris „Hammerschubs“ und Juvals Jugendliebe (pp.135/36)
o Heimlichtuerei: Selbst die Therapeutin verschleiert die Wahrheit ihrer Trennung von Ofer
o Flucht vor der Wahrheit: Hätte fast vergessen, dass sie geflohen waren. p. 148
o Zwist Israeli:Araber spiegelt sich in der Familie Juval:Naomi: In jener Nacht stritten sie sich erstmals seit dem Vorfall. p. 166
Dann der nächste Killersatz: Es ist unfair, jemandem wegen eines Missverständnisses das Leben zu ruinieren, das Thema des Buches, reduziert auf eine Phrase. p. 146
Irreführend der Titel WAUAATSCHABU. Kein Nachschlagen hilft. Auch chatgpt versagt anfänglich. Erst als ich ihn mit dem Zitat auf Seite 199, füttere: ein riesiger, ausladender Baum, kommt die App in Fahrt: eine rein onomatopoetische Konstruktion – also Klangmalerei. Gundar‑Goshen verwendet sie, um den Baum akustisch und sinnlich erlebbar zu machen, nicht als Wort mit fester lexikalischer Bedeutung. Klanglicher Eindruck: „WAUAA–TSCHABU“ klingt kräftig, resonant und ein wenig guttural – wie das Rauschen großer Äste, wenn der Wind hindurch streicht, kombiniert mit dem dumpfen Widerhall des Stammes.
Nicht schlecht, oder?
Viel wichtiger scheint mir der Satz: Naomi sprach es ihr langsam nach, welcher die Faszination dieser Dame auf unsere Protagonistin ausdrückt. Er vertieft ihre im Satz: Sie wusste, sie würde sich nicht sicher fühlen, wenn ein fremder Anzugträger ihr Auto lenkte, auf p.134 geäusserte Unsicherheit im Umgang mit dem ihr Unbekannten.