Fanny
Das Schneemädchen
Ich war irritiert. Diese kurze Erzählweise verstärkt das Gefühl der Unheimlichkeit und lässt den Leser das Unverständliche und das Absurde stärker spüren. Es bleibt weniger Raum für eine detaillierte Erklärung und mehr Raum für Interpretation. Angela Carter übt scharfe Kritik an der Vorstellung von Weiblichkeit als etwas, das durch Männlichkeit kontrolliert und idealisiert wird. Es geht bei ihr oft um Gewalt, Macht und Besitzdenken. Sie zeigt, wie Weiblichkeit in diesen Fantasien oft entmenschlicht wird, als etwas, das dem männlichen Blick dient und den männlichen Wünschen unterworfen ist.
Die Herrscherin im Haus der Liebe
Das ist auch die Geschichte, die mir am besten gefallen hat und am meisten in Erinnerung blieb. Warum kann ich nicht genau sagen, ich fand das Konzept spannend.
Die Vampirin ist nicht einfach ein Monster, sondern gefangen in einem Fluch und einer ewigen Wiederholung von Tod, Verführung und Einsamkeit. Sie ist ein Produkt ihrer Vergangenheit, geprägt von Isolation und einem Schicksal, das sie nicht selbst gewählt hat. Ihre Existenz ist melancholisch und leer, sie lebt in einem Rollenmuster, das sie zwar erfüllt, aber nicht versteht – das macht sie zu einem tragischen Opfer ihrer eigenen Geschichte. Der Soldat bringt eine neue Perspektive – nüchtern, logisch, ohne Aberglauben. Seine Rationalität bricht den Zyklus der Wiederholung. Wo andere Männer der Vampirin zum Opfer fallen, sieht er sie als Mensch, nicht als mythisches Wesen. Diese neue Sichtweise ermöglicht eine Art Erlösung oder zumindest Transformation. Die Beziehung ist nicht mehr von Angst oder Begehren geprägt, sondern von Mitgefühl und Verstehen. Der Tod ist in der Geschichte nicht endgültig, sondern Teil eines ewigen Kreislaufs. Die Vampirin verführt, tötet, trauert – immer wieder. Dieser Zyklus steht für Unfreiheit und Stagnation. Erst durch die Begegnung mit dem Soldaten entsteht die Möglichkeit, diesen Kreis zu durchbrechen. Der Zyklus symbolisiert auch, wie tief patriarchale Vorstellungen und Mythen eingebrannt sind – und wie schwer sie zu überwinden sind.
Der Werwolf
Carter dreht das klassische Märchen um – Rotkäppchen ist hier nicht das Opfer, sondern eine Heldin. Sie tötet den Werwolf, der sich als ihre eigene Grossmutter entpuppt, und übernimmt selbstbewusst deren Platz. Damit wird aus der passiven Mädchenfigur eine aktive, mächtige Frau. Carter entlarvt patriarchale Erzählmuster und gibt der weiblichen Figur Handlungsmacht zurück. Das Ende überrascht, weil Rotkäppchen ihre eigene Grossmutter tötet – und danach ruhig in ihrem Haus lebt. Das wirkt kalt, sogar brutal. Aber es steht symbolisch für das Brechen mit alten Rollen, Erzählungen und Abhängigkeiten. Sie übernimmt das Haus, die Macht, die Erzählung – und definiert Weiblichkeit neu, jenseits von Schuld, Opferrolle und Ohnmacht.
Die Gemeinschaft der Wölfe
In Die Gemeinschaft der Wölfe ist das Verhältnis nicht mehr von Angst, sondern von Begehren und Selbstbestimmung geprägt. Rotkäppchen ist sich der Gefahr bewusst, aber sie begegnet dem Wolf mit Neugier, sogar Lust. Sie wird zur aktiven Figur, die ihre Sexualität entdeckt, statt davor davonzulaufen. Es geht nicht mehr um Opfer und Täter, sondern um ein komplexes Spiel zwischen Macht und Verlangen.
Rotkäppchen legt ihre Kleidung ab, lacht und schläft mit dem Wolf. Das Ende ist provokativ – nicht weil es brutal ist, sondern weil es traditionelle Moralvorstellungen sprengt. Es zeigt eine Frau, die sich freiwillig auf das Unbekannte einlässt, Lust zulässt und keine Strafe dafür erfährt. Es ist ein Bruch mit der patriarchalen Märchenlogik, in der weibliche Sexualität mit Gefahr, Schande oder Tod verbunden ist.