Kathrin1014
Der dritte Teil hat mich entäuscht. Ich denke, da hätte die Autorin mehr draus machen können; da denkt z. B. Neil Stephenson wesentlich differenzierter und gründlicher über Handlungen und deren Auswirkungen nach.
Was mich auch gestört hat: die Meinung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Martha, Selah, Badger und Albert haben betrogen, gelogen, und verschleiert, nur um ihre Eigeninteressen durchzusetzen. (Martha selber stört sich jedoch daran, dass ihr dasselbe widerfährt, das sie anderen angetan hat (S. 506, als sie erfährt, dass Martha auch auf der Insel ist).)
Es ist letztlich dasselbe Muster, das auch viele Tech-Unternehmer haben: “ich weiss, was zu tun ist, die Welt zu retten, und nutze meine Macht, es zu tun”. FutureSave übernimmt riesige Ländereien. Wie viele Menschen werden dadurch gezwungen, ihre Heimat zu verlassen? Wäre es nicht besser, die bestehenden Gebiete (z. B. das erwähnte Naturschutzgebiet Vanoise) weiterhin in öffentlicher Hand zu belassen?
Es wird die Naturschutz-Idee von FutureSave durchgesetzt: Verwilderung; der Zugang zu den Gebieten ist für alle strengstens verboten. Für alle? Es gibt für die Führer die Möglichkeit zur Umgehung dieser Verbote, und sie nutzen sie auch. FutureSave entscheiden auch, wann und wie diese Gebiete wieder besiedelt werden (S. 535: FutureSave sendet Range auf die Insel, zur dauerhaften Besiedelung. Die Firma stellt ledigitlich einen von der Firma ausgewählten virtuellen Ausschnitt zur Verfügung, ausschliesslich über ihre eigenen Services.
Auch andere Themen werden sehr salopp abgehandelt: die neuen Führer der Tech-Konzerne defineren was gut ist, die Welt macht mit, und alle Probleme sind gelöst. Zwei Begriffe fallen mir dazu ein: Entmündigung und Diktatur.
Hier reflektiert die Autorin im Buch leider viel zu wenig was eine solche Welt für die einzelnen Menschen bedeutet.
Kathrin1014 : zu deinem erwähnten Zitat von S. 474: “Sorge dafür, dass alles so angenehm, erfreulich und reibungslos ist, dass keiner auf die Idee kommt, Fragen zu stellen. Keiner soll je darüber nachgrübeln, wie er sein Leben wirklich verbringen will.” –> Das bescheibt genau die Situation nach der Machtübernahme durch Martha und co.
«Es gab Menschen, die unablässig hinter Neuem her waren und die nur ein Leben in ständiger Bewegung zufriedenstellen konnte. Rasen wir unbarmherzig auf die Zukunft zu, weil wir nicht mehr in der realen Welt umherstreifen?» S. 495 –> Sehr tiefgründige Gedanken zu diesem Thema werden von Hartmut Rosa in seinen Büchern “Unverfügbarkeit”, “Beschleunigung” und “Resonanz” beschrieben. “Das zentrale Bestreben der Moderne gilt der Vergrösserung der eigenen Reichweite, des Zugriffs auf die Welt: Diese verfügbare Welt ist jedoch, so Hartmut Rosas brisante These, eine verstummte, mit ihr gibt es keinen Dialog mehr.”
Zu deiner Frage nach dem paradiesischen Leben auf der Insel: “Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.” Ein extrem priviligiertes Leben! Die Insel ist 250 km2 gross, von vier Personen bewohnt. Die Landmasse der Erde ist ca. 600′000 mal so gross. Wenn also alle so leben wollten, dürfte es nur noch 2.4 Millionen Menschen geben. Nein, diesen Anspruch so zu leben, habe ich nicht.
Aber das ist nur meine Meinung. Ich bin sehr gespannt auf andere Meinungen, insbesondere auch, wenn ihr meine Argumentationen zerpflückt (das gibt mir die Möglichkeit, zu lernen.)
Ich möchte mich für die tolle Leserunde bedanken. Dadurch hat das Reflektieren über das Buch eine ganz andere Qualität erhalten. Die vielen interessanten Kommentare von euch allen haben mir Punkte aufgezeigt, die mir sonst entgangen wären. Ganz herzlichen Dank
Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch und ein wunderbaren, glückliches, gesundes Neues Jahr, mit vielen interessanten Büchern.