Kai Diekmann veröffentlicht dieser Tage seine Biografie «Ich war Bild» und Benjamin von Stuckrad-Barre beschäftigt sich in seinem Roman «Noch wach?» ebenfalls mit der grössten deutschen Boulevardzeitung und ihren Methoden.
Erheblich relevanter in diesem Zusammenhang erscheint mir aber «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» von Heinrich Böll. Erschienen 1974, hat die Erzählung tragischerweise nichts an Aktualität eingebüsst. Böll protokolliert darin den fiktiven Fall einer jungen Frau, die durch Zufall in die Ermittlungen der Polizei gerät und somit als «Person des öffentlichen Interesses» auf die Titelseiten der ZEITUNG. Die Ereignisse beginnen am Vorabend von Weiberfasnacht. Vier Tage später ist ihr Ruf ruiniert, ihre Mutter tot und Katharina Blum ermordet den Journalisten Werner Tötges.
Böll schreibt in kurzen Kapiteln, in Rückblenden, mit direkter Ansprache des Publikums und Einschüben der fiktiven Berichterstattung und der Vernehmungsberichte. Von vornherein wissen wir über die groben Details des Falls Bescheid. Böll klärt uns im Verlauf des Buches über die Hintergründe auf, die dazu führten, dass eine unschuldige Frau einen Mord beging. Thematisch behandelt er vor allem die verwerflichen Methoden des Boulevardjournalismus («Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann», ist dann auch der treffende Untertitel). Daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben. Den Informationsaustausch zwischen Journalismus und Polizei/Staatsanwaltschaft kritisiert Böll ebenfalls scharf. An Bölls Haltung zum Boulevardjournalismus bleibt dabei kein Zweifel, ebensowenig an seiner politischen. («[…] Konrad Beiters, der bei dieser Gelegenheit zugab, er sei ein alter Nazi, und dieser Tatsache allein verdanke er es wahrscheinlich, daß man bisher auf ihn nicht aufmerksam geworden sei.») Empörung und Wut des Autors schwappen mühelos auf das Publikum über. Er schreibt aber auch mit Ironie und beissendem Humor («Gut, jetzt bumst’s.»). Nebenbei behandelt er Machtmissbrauch, systematische sexuelle Belästigung und die Lebensrealität von Frauen 1974 – ebenfalls Themen, die leider nichts oder nur wenig an Aktualität und Relevanz verloren haben.
Unheimlich ist, wie viele der in Bölls Erzählung aufgeführten Verteidigungsargumente der nur unschwer kaschierten Bild-Zeitung auch von Kai Diekmann benutzt werden (Stichwort: Wer ins Rampenlicht will, darf sich nicht beschweren, wenn wir über sie schreiben.). Auch Absprachen mit Politiker*innen leugnet der ehemalige Chefredakteur im Interview mit dem Bund vom 10. Mai 2023 nicht, sondern lenkt stattdessen ab. Wer sich mit den aktuellen Praktiken der Bild nicht so auskennt, findet Beispiele dazu in «Noch wach?». Stuckrad-Barre, lange Zeit eng befreundet mit Springer-Chef Mathias Döpfner, plaudert in seinem Roman quasi aus dem Nähkästchen.
Beissend ist auch Bölls Nachwort von 1984, das er schliesst mit einem PS: «Inzwischen ist die «Bild»-Zeitung ja fast schon das regierungsamtliche Blatt. Ministerielle Verlautbarungen zu wichtigen politischen Themen erscheinen am Sonntag oder Montag in einer der «Bild»-Varianten. Zufall ist das nicht.»
Wem sich nun die Frage stellt «Darf ein Text so offensichtlich Stimmung machen und geradezu manipulativ sein?», dem sei geantwortet, dass darin eine der grössten Stärken von «Katharina Blum» liegt. Denn während wir noch darüber diskutieren, ob eine Erzählung so etwas darf, können wir nahtlos dazu übergehen zu fragen: Darf Journalismus das? In letzterem geht es, im Gegensatz zu einem fiktiven Werk wie dem Bölls, um echte Menschen, die, im schlimmsten Fall, diffamiert und deren Leben grundlegend geändert oder sogar zerstört werden können (das macht Böll auch mit dem Schicksal von Katharinas Arbeitgebern, den Blornas, deutlich). (Angehende) Journalist*innen regt Böll mit seinem Text dazu an, seriös zu berichten und sorgfältig zwischen Persönlichkeitsrechten und öffentlichem Interesse abzuwägen. Aber auch wir, als Publikum, dürfen uns nach der Lektüre von Katharina Blum an die eigene Nase fassen: Denn wenn wir Boulevardzeitungen nicht mehr lesen, die TV-Formate der entsprechenden Verlage nicht mehr anschauen und den Online-Kanälen nicht mehr folgen würden, gäbe es sie vermutlich schon nicht mehr.
«Die verlorene Ehre der Katharina Blum» ist ein eindrückliches Werk über das Individuum sowie die Verantwortung von Journalismus und Staatsapparat. Böll zeichnet ein spitzes, linkspolitisches Bild der deutschen Gesellschaft in den 70ern. Die Tatsache, dass sich nur wenig in den vergangenen 50 Jahren geändert hat in Bezug auf die Praktiken des Boulevardjournalismus, verleiht dem Buch auch heute noch eine erschreckende Aktualität. Wer «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» nicht bereits in der Schule gelesen hat, sollte das unbedingt nachholen.