Ich war eigentlich nie ein Picasso-Fan, bis mir ein Kunstkalender in die Hände fiel, wo mich ein Bild sofort in seinen Bann zog: das Bild der Frau mit den 2 Gesichtern. Als ich dann meine neue Wohnung bezog, modernisierte ich diese mit Kunstbildern. So hängt jetzt ganz prominent “Dora mit Hut” über meinem Bett, emanzipiert, selbstbewusst, stolz und eigensinnig. So verzerrt und verstörend dieses Bild auch wirken mag, damit erinnert es mich an meine Mutter, die so immer an meiner Seite ist. Kein Wunder also, dass meine Wahl bei der Kunstmatur auf Picassos Kubismus und eben dieses Bild fiel!
Verständlich also, dass ich mehr über diese Frau, die mich im Schlafzimmer begrüsst, erfahren wollte, und zwar nicht über Wikipedia, sondern in Romanform, aus der Reihe historischer Frauen. Und ich muss zugeben, dass mich diese Biografie von der ersten Seite an begeisterte: gut recherchiert, raffiniert umgesetzt, so dass die wilden (roaring) Twenties, der 2.Weltkrieg und die Fifties des 20 Jahrhunderts Revue passierten, wieder lebendig wurden. Die Autorin verstand es, die emanzipierte, hochbegabte Frau und leidenschaftliche Künstlerin, die mehr war, als Picassos Muse, in Szene zu setzen. Man hatte als LeserIn das Gefühl, in den Restaurants, Bistros und Cafés, in der Provence und Paris, auch als stiller Gast teilzunehmen. Inspiration und Genuss, Liebe und Experimente, die selbst an der Seite eines Kunstgenies wie Picasso, sich die Waage hielten, waren mehr, als ich erwartet habe. Was habe ich erwartet? Dass Dora Maar, die eigentlich Theodora Markovic hiess, nur als ein Kapitel, eine Frau unter vielen beim Macho Picasso, der sie zerstört hatte, enden würde?! Aber das passierte nicht: Sie hatte zwar einen Nervenzusammenbruch, auf den im Buch hingewiesen wird, aber der Leser wusste um ihre Stärke, dass sie dieses Post-Picasso-Phase - woran nicht zuletzt Picasso schuld ist - überwinden wird. Und das Ende, d.h. der Quantensprung 30 Jahre nach vorn (nach ihrem Tod), wo 2019 im Centre Pompidou eine Ausstellung ihr zu Ehren stattfand, wirkte fast wie eine krönende Preziose, Wiedergutmachung/Korrektur des Bildes, das die Kunstwelt zu ihren Lebzeiten immer von ihr hatte: als Frau, Modell, Muse des grossen kleinen Picasso, aber nie als eigenständige Künstlerin und Persönlichkeit!
Der Leser spürt die Sympathie und verbale Verneigung der Autorin vor dieser Ikone der Kunst, des Surrealismus, den ich bis dato nur mit Dali und Miro in Verbindung gebracht habe. Ausserdem wurde mir durch dieses Buch klar, wer zum Beispiel Man Ray war. Auch hinter ihm habe ich irgendwie immer einen “Amerikaner in Paris” vermutet. Falsch! Auch dieser, wie Dora, die französische Slawin aus Argentinien, war ein osteuropäischer Künstler, der seinen langen slawischen Namen auf 2 Silben kürzte: aus Manuel wurde Man und aus Raykowsky Ray! Schon damals also waren slawische Namen etwas verpönt, was vor allem einer Karriere im Weg war, also geändert werden musste.
Tja, allein die Entourage oder das “Buch-Personal” lohnt (unter anderem Frieda Kahlo), die Biografie zu lesen. Man erfährt einiges über die Künstlerkolonie in Paris und diese Zeit. Etwas über 400 Seiten schreckten mich nicht ab; ich genoss jedes der 5 Kapitel, die sich auf einzelne Dekaden in Doras Biografie bezogen. Dieses Buch ist eine Hommage an eine starke, unterschätzte Frau. Chapeau kann ich nur sagen - als begeisterte Hutträgerin mit einem Hutgesicht vor der Frau mit Hut und den 2 Gesichtern!