Um das gleich vorwegzunehmen: Der Buchklapptext kann in die Irre führen und falsche Hoffnungen wecken. Statt ‘historischer Roman’ mit politischen Ereignissen und explizite Spannung liegt hier der Fokus wohl mehr auf Stimmung, Beziehung und Figurationen (wobei das andere nicht zu kurz kommt): Also eher ‘Lonely Man’ statt packender ‘historischer’ Krimi – wobei das ja auch. Ganz zu schweigen vom trügerischen Titel (auf Deutsch verwischt die Vieldeutigkeit des englischen Ausdrucks) …
Ausgehend von einem realen historischen Ereignis baut der Autor Ian McGuire eine realistische (im Sinne von ‘Lebens nah’), trostlose, aber auch anrührende Geschichte von zwei kauzigen und schwierigen Protagonisten – der Dubliner Constable James O’Connor und den irisch-stämmigen US-Bürgerkriegsveteran Stephen Doyle – auf; aber ganz ohne anzubiedern.
Das finstere Setting spielt 1867 des früh industrialisierten Manchesters im neu entbrannten Konflikt zwischen der imperialen Macht England und dem ‘kolonisierten’, nach Unabhängigkeit strebenden Irland und thematisiert dadurch indirekt auch Macht, Nationalismus und Terrorismus; Themen, die uns auch heute angehen. Die im Präsens geschriebene Lektüre manövriert gewillte:n Lerser:in in aufwühlende bis gar erschütternde, trostlose Lebensbedingungen, in Strudel aus Gewalt, Rache, Verrat, Schuld, Vergeltung und die finale Frage nach Vorherbestimmung respektive ‘Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden’, sowohl von damals als auch gegenwärtigem.
Die Geschichte ist weder etwas für schwache Nerven noch Wohlfühllektüre; kann aber sehr wohl allen empfohlen werden, die eine etwas herausfordernde Lektüre schätzen: Vieles bleibt angedeutet, nichts wird ausbuchstabiert, bietet Raum für Interpretationen und Empathie. Nachdenken wird beim gewillten Publikum eingefordert, denn die fordernde Geschichte konfrontiert eindringlich mit Trost- und Ausweglosigkeit, (un-)menschlichen Abgründen, Ohnmacht und Anomie.
Ich gebe dem Buch die volle Punktzahl, habe ich mich auf dieser düsteren Reise über die Frage nach menschlichen Unzulänglichkeiten und Ambivalenzen von Notwendigkeit und Ungewissheit menschlicher Existenzweisen mit all seiner brachialen Gewalt und Grausamkeiten nichtsdestotrotz sehr gut unterhalten – ähnlich wie bei einem aufwühlenden Film.
Gerade der Schluss lässt nichts aus und schöpft aus dem Vollen: Mit einer Art «deus ex machina» in Form des ‘Jungen’ lässt Ian McGuire kein gutes Haar an der menschlichen Existenz. Grossartiges (und gleichzeitiges grausames) «Kino». Würde mir für den Kinofilm bestimmt auch ein Ticket besorgen!