Um ein Buch zu schreiben, sollte man das Thema des Buchs beherrschen oder sich wenigstens sehr gut darin auskennen. Karl Ove Knausgard hat die Bibel regelrecht durchdrungen. In dem 637-seitigen Werk “Alles hat seine Zeit” erzählt der Autor die Geschichte vom Fall der Engel nach.
Die Gattungsbezeichnung lautet zwar “Roman”, jedoch mutet das Ganze als Essay nach lateinamerikanischem und französischem Vorbild an. Zitate (weder mit Quellenangabe noch mit Anführungs- und Schlusszeichen versehen), eigene Gedanken, Fiktion und Poetisches fügen sich darin zu einem harmonischen Ganzen, das einer bestimmten Frage nachgeht. In Knausgards Buch lautet die Fragestellung: “wie Unschuld und Reinheit [der Engel] sich so leicht in ihr Gegenteil verkehren konnten.” Was auf diese Eingangsfrage folgt, ist eine biblische, theologische und kunstgeschichtliche Spurensuche der Engel, denn diese kommen in der Bibel nicht explizit, doch, wie Knausgard meint, implizit vor, etwa im Satz “Es werde Licht”. Da die Engel Lichtwesen seien, wären sie in diesem göttlichen Imperativ zwar nicht genannt, aber mitgemeint gewesen. Oder aber, die Engel seien nicht aus Licht, wären aber vor der Erschaffung der Welt schon dagewesen. Solcherlei Spekulationen machen den Roman aus. Das Ergebnis ist ein dichtes und tiefgründiges Werk, das sich biblische Worte auf der Zunge zergehen lässt, sie dreht und wendet und mit verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten spielt. Neben dieser im weitesten Sinne exegetischen Arbeit, die eher einer Textmeditation gleichkommt, greift Knausgard die Geschichte der Engel von der Antike bis zur Aufklärung auf, anhand zweier fiktiver Charaktere, einem Antonio Bellori aus der Renaissance, der Kontakt zu Engeln gehabt haben will und dem Historiker Bergotti, der die Biografie Belloris schreibt. Diese beiden ermitenartigen Charaktere fügen eine mythologische Dimension in die Erzählung ein. Denn die beiden Männer muten wie Baum- oder Flussnymphen an, die sich von den Menschen zurückgezogen haben und ganz in der Natur aufgehen.
Bei diesem Konglomerat aus Bibellektüre, Mythologie, Religions- und Kunstgeschichte fragt man sich: Warum hat der Autor nicht eine Dissertation zur Engelsfrage geschrieben? Es hätte nicht viel dazu gebraucht - nur noch die Quellenangaben anfügen und schon hätte man sie gehabt. Die gattungsmässige Uneindeutigkeit ist auch der Grund, weshalb ich keine 5 Sterne vergeben kann, wobei mir klar ist, dass dies eine Kritik auf sehr hohem Niveau ist. Die vielen Anspielungen, von Thomas von Aquin, über Augustinus bis hin zu Hieronymus verleihen dem Buch einen hermetischen, um nicht zu sagen eigenbrötlerischen Charakter. Wer kann im 21. Jh. schon von sich behaupten, die Summa theologica auch nur ansatzweise gelesen zu haben? Solche Kenntnisse darf man unserer Tage nicht einmal in sogenannten gebildeten Kreisen voraussetzen. “Alles hat seine Zeit” ist von daher kein einladendes Buch, sondern zuweilen ein sperriges, das, wie die beiden Hauptcharaktere, eremitenhafte Züge trägt. Bei alledem ist es kein grüblerisches Buch. Der Autor bzw. die Ich-Erzählstimme verirrt sich nicht im Labyrinth der eigenen Überlegungen, sondern der rote Faden ist immer klar.
Was das Werk zu Literatur macht, ist die Sprache. Das halte ich für die grosse Leistung des norwegischen Autors, unabhängig davon, ob man sich für Engel interessiert oder nicht. Man findet in dem Buch Sätze, bei denen die Zeit stehenbleibt. Ein Beispiel von vielen möglichen: “Doch die Sprache ist nur eine Karosserie, und was die Sprache in sich birgt, wird von der erreichten Geschwindigkeit weitergeschleudert, über den Punkt hinweg, aus dem Satz heraus und zwischen die Zeilen, wo es natürlich nicht mehr gelesen, nur noch erahnt werden kann.”
Ein Anliegen, das in der Zeit verfolgt wird, die Zurückhaltung des Autors und die Arbeit an der Sprache - das macht grosse Literatur aus. “Alles hat seine Zeit” ist grosse Literatur. Anspruchsvoll, belesen, meditativ - ein Buch über die (heute immer seltener werdende) Kunst des langsamen Lesens.