E.E. ist kein neues Buch von Olga Tokarczuk, sondern ihr zweiter Roman, der bereits 1994 auf Polnisch erschien und 2024 endlich auf Deutsch übersetzt wurde. Für mich war es nicht der erste Roman von ihr – und wie immer war ich tief beeindruckt.
Die Geschichte spielt in Breslau, Anfang des 20. Jahrhunderts, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist die Zeit Freuds, die Zeit der Séancen, des Spiritismus, des medizinischen Fortschritts – aber auch der Hysterie-Diagnosen, vor allem bei jungen Frauen. Genau hier setzt der Roman an: Die fünfzehnjährige Erna Eltzner bricht plötzlich am Mittagstisch zusammen, sieht Geister und hört Stimmen. Schnell ist sie nicht mehr Tochter oder Schwester, sondern ein Fall – ein Fall für Ärzte, Okkultisten, spiritistische Zirkel, Nachbarn und neugierige Beobachter. Jeder möchte in ihr etwas sehen, etwas beweisen, etwas deuten. Nur sie selbst bleibt merkwürdig ungehört.
Was mich bei Tokarczuk immer wieder erstaunt – auch hier –, ist ihre Fähigkeit, mich für Themen zu interessieren, die mich eigentlich nicht interessieren. Séancen, Okkultismus, Übersinnliches: Das wäre normalerweise nicht meine Welt. Aber Tokarczuk schreibt so klug, so vielschichtig und zugleich so literarisch klar, dass ich ganz darin eintauche.
Und obwohl es kein lauter feministischer Roman ist, durchzieht ihn doch ein starkes, ruhiges Nachdenken über Weiblichkeit. Erna wird zur Projektionsfläche, zur Trägerin von Deutungen – und gerade darin liegt eine leise Kritik. Der Roman zeigt, wie Frauen – besonders junge Frauen – in einer männlich dominierten Welt gelesen, diagnostiziert, analysiert und vereinnahmt werden. Es ist kein Aufschrei, sondern ein feines, kluges Aufzeigen. Tokarczuk schreibt keinen ideologischen Roman, aber ein tief humanistisches, still feministisches Buch.
Und dann ist da noch das Literarische selbst: Wie sie das Unscheinbare bedeutungsvoll werden lässt. Wie sie Figuren zeichnet, die nachklingen. Wie sie einen scheinbar belanglosen Moment mit Spannung auflädt. Ich habe schon mehrere Bücher von Tokarczuk gelesen, und jedes Mal gelingt es ihr, aus einem Stoff, der mich eigentlich gar nicht reizt, große Literatur zu machen.
Olga Tokarczuk hat zu Recht den Nobelpreis gewonnen – E.E. ist ein weiteres Beispiel dafür, warum.