Ich bin ein großer Fan von Sayaka Murata. Ihre Romane – Die Ladenhüterin, Das Seidenraupenzimmer und Schwindende Welt – gehören für mich zu den faszinierendsten literarischen Auseinandersetzungen mit dem, was wir „Normalität“ nennen. Murata denkt gesellschaftliche Konventionen gnadenlos zu Ende, bis das vermeintlich Selbstverständliche kippt und sich als willkürlich entpuppt.
Gerade deshalb habe ich mich sehr auf ihre Kurzgeschichtensammlung Zeremonie des Lebens gefreut – und mich zugleich ein wenig schwergetan. Kurzgeschichten sind einfach nicht mein Lieblingsformat, und bei Murata spüre ich besonders, dass ihre Gedanken mehr Raum brauchen. In der Kürze bleibt vieles bei einer Idee, einem grellen Moment – interessant, aber nicht so durchdringend wie in den Romanen. Manche Texte wirken fast wie kleine Experimente oder Vorstudien zu ihren größeren Werken.
Die Geschichten tragen zwar alle die typischen Murata-Themen in sich – Anpassung und Abweichung, biologische und soziale Programmierung, die fragile Grenze zwischen Körper, Arbeit und Identität –, doch in der Kürze fehlt der Raum, den sie braucht, um ihre Gedanken konsequent zu Ende zu denken.
Trotzdem ist dieser Band natürlich unverkennbar Murata: das sachlich Absurde, das Zärtliche im Grotesken, diese stoische Ruhe, mit der sie Tabus entblättert. Die letzte Geschichte, „Ausgebrütet“, hat mich dann wieder ganz gepackt. Sie war wie ein elektrischer Schlag – wachrüttelnd, intensiv, gedanklich ansteckend. Genau dafür liebe ich Murata: für dieses Gefühl, dass Denken plötzlich etwas Körperliches wird.
Ich hoffe sehr, dass bald wieder ein neuer Roman von ihr auf Deutsch erscheint. Murata braucht Raum – und wenn sie ihn bekommt, verändert sie unsere Wahrnehmung der Welt.
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