Mit Schwindende Welt legt Sayaka Murata ihren dritten auf Deutsch erschienenen Roman vor. Und wieder zieht sich das Thema wie ein roter Faden durch ihr Werk: Was ist eigentlich „normal“?
Diesmal steht nicht nur eine Außenseiterin im Zentrum, sondern eine ganze Gesellschaft. Amane lebt in einer Welt, in der Sex, Liebe und Familie radikal neu gedacht sind. Kinder entstehen durch künstliche Befruchtung oder sogar in männlichen Gebärmüttern. Ehen sind Zweckgemeinschaften, nicht Orte für romantische Gefühle. Verlieben darf man sich – aber am liebsten in Comicfiguren oder Filmheld*innen. Das, was für uns völlig unvorstellbar scheint, ist hier das Normale.
Gerade das fand ich so faszinierend: Murata zeigt mit großer Konsequenz, dass Normalität nichts Festes ist, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt. Was heute selbstverständlich erscheint, kann morgen schon Abweichung sein – und umgekehrt. In dieser Welt ist es „abnormal“, wenn ein Ehemann plötzlich Intimität mit seiner Frau sucht.
Allerdings muss ich auch sagen: So sehr mich die Grundidee begeistert hat, so sehr hat mich die Lektüre manchmal ermüdet. Obwohl Sex eigentlich kaum mehr eine Rolle für die Fortpflanzung spielt, dreht sich der Roman fast ausschließlich um Sexualität – um ihre Abwesenheit, ihr Verbot, ihre Umwege. Das wiederholt sich mit der Zeit, und ich hatte Phasen, in denen ich dachte: Ja, ich habe es verstanden.
Und doch: Ich konnte nicht loslassen. Immer wieder musste ich Pausen machen, nachdenken, mir Fragen stellen. Ich habe selten ein Buch gelesen, das meine Gedankenwelt so sehr in Bewegung gebracht hat.
Besonders der Teil in der experimentellen Stadt „Experimenta“ ist für mich eine regelrechte Dystopie des Grauens: Kinder ohne Eltern, alle gleich, aufgezogen von Institutionen; Menschen, die ihre Individualität zugunsten der kollektiven Ordnung verlieren. Und gleichzeitig bleibt diese Welt erschreckend vorstellbar.
Am Ende bleibt für mich die Erkenntnis: Den sexuellen Trieb kann man nicht einfach abschaffen. Murata versucht es, indem sie ihn in „Clean Rooms“ und Fantasiewelten umlenkt. Doch für mich wirkt das nicht ganz konsequent: Solange der Trieb existiert, bleibt auch der Sex zwischen Menschen eine Möglichkeit – und in meinen Augen wird er immer Teil der Gesellschaft sein. Genau an diesem Punkt hadere ich mit dem Roman. Aber gerade weil Murata hier so radikal entwirft, zwingt sie mich, über diese Fragen nachzudenken. Und das ist vielleicht die größte Stärke dieses Buches
📚 Weitere Rezensionen auf Deutsch findest du auf meinem Goodreads- und LovelyBooks-Profil.