Ich lese selten zwei Bücher derselben Autorin direkt hintereinander. Aber nach Die Ladenhüterin war klar: Ich wollte mehr von Sayaka Murata. Das Seidenraupenzimmer ist jedoch ein noch radikaleres Leseerlebnis, verstörend und faszinierend zugleich.
Über den Inhalt zu sprechen, hieße, den Text zu entwerten. Muratas Roman entfaltet seine Wirkung nicht über Handlung, sondern über das, was er in uns zum Beben bringt. Erzählt wird von Außenseiter*innen, die sich von der menschlichen Gesellschaft entfremden, ja, sich gar nicht mehr als „Menschen“ verstehen. Die Welt der „Erdlinge“ erscheint ihnen als Fabrik: ein System, das Menschen produziert, die brav arbeiten, heiraten, Kinder bekommen. Alles, was nicht in dieses Raster passt, wird an den Rand gedrängt.
Murata denkt dieses Außenseitertum radikal zu Ende. Der Text wird zum philosophischen Gedankenexperiment über Normalität, Identität und Tabus. Er zwingt uns, die vermeintliche Selbstverständlichkeit unseres Menschseins zu hinterfragen. Was heißt es, Teil einer Gesellschaft zu sein? Was heißt es, „normal“ zu leben? Und was passiert, wenn diese Ordnung zusammenbricht?
Am Ende gibt es keine Erlösung, kein moralisches Aufatmen. Man bleibt zurück mit dem Gefühl, dass alles, was wir Normalität nennen, ins Rutschen geraten ist. Für manche wird das zu extrem oder abstoßend wirken. Für mich liegt darin jedoch die literarische Stärke dieses Romans.
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