Ich habe Die Verwandelten nicht „gelesen“, ich habe es durchlebt. Dieses Buch ist kein Wohlfühlroman, es will nicht trösten, nicht leichtmachen, nicht unterhalten. Es ist ein Werk über ein Jahrhundert Gewalt, Verlust und Nachhall – erzählt von Frauen, deren Stimmen sich durch Krieg und Nachkrieg hindurch verändern, brechen und dennoch bestehen. Drei Generationen, verbunden durch etwas, das sie nicht gewählt haben, aber tragen müssen.
Was dieses Buch so besonders – und so anstrengend – macht, ist die Art, wie Draesner erzählt. Die Zeit ist nie linear. Der Roman springt unaufhörlich zwischen 1938, 1945, den 1960er Jahren, der Gegenwart und den Orten, an denen die Familiengeschichte abgelagert ist: München, Hamburg, Warschau, Breslau/Wrocław. Jeder Zeitsprung zieht einen wie ein Strudel nach unten, bevor man wieder zur Oberfläche zurückkommt. Dieses „retardierende Erzählen“ macht das Lesen körperlich, manchmal fast erschöpfend.
Dazu kommt das Thema selbst. Die Verwandelten zeigt nicht die Gewalt im Moment, sondern das Danach:
Flucht. Vergewaltigungen. Lebensborn. Tote Kinder. Verstümmelte Identitäten.
Es ist die Frage, wie ein Krieg weiterlebt in Menschen, die ihn überlebt haben – und in denen, die nach ihnen kommen. Der Roman bleibt beunruhigend nah an der Frage, wie man überhaupt leben soll, wenn Sprache, Herkunft und Körper durch Gewalt geprägt sind.
Und dann die Sprache. Draesner schreibt hochliterarisch, verdichtet, ohne Entlastung. Dialekt, Polnisch, Schlesisch, Mythologie, Biologie, Bilder und abrupte Gedankensprünge – alles verschmilzt zu einem Rhythmus, der manchmal wie Musik, manchmal wie Atemnot wirkt. Man liest fünf Seiten und hat das Gefühl, es seien dreißig gewesen. Trotzdem ist der Roman nie langweilig: Er hat eine Kraft, einen Drive, der einen trotz aller Schwere weiterzieht.
Mich hat besonders beeindruckt, wie Draesner die Gewalt nie ausschlachtet, sondern spürbar macht. Die Verwundung ist nicht das Spektakel, sondern die Spur. Es geht nicht um das Ereignis, sondern um das Weiterleben. Um das, was Frauen über Jahrzehnte nicht sagen konnten. Um das, was die Sprache selbst erlitten hat.
Als ich die letzten Seiten gelesen habe, war ich erschöpft, aber voller Bewunderung. Die Verwandelten ist ein großes literarisches Werk – hart, traurig, fordernd und gleichzeitig zärtlich gegenüber seinen Figuren. Ulrike Draesner gehört für mich mit diesem Buch zu den bedeutendsten literarischen Stimmen der Gegenwart.
Ein Roman, der lange nachhallt. Vielleicht ein Leben lang.
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