(Inhalt vgl. Cover)
Wer sich wie ich in der Geschichtsstunde aufgrund des Frontal- und monotonen Geschichtsunterrichts nicht konzentrieren konnte (zumal sowieso nur die “Schlacht am Morgarten” z.B. behandelt wurde, nicht jedoch der Erste oder Zweite Weltkrieg) und der/die sich heute ein Bild von unserer unmittelbaren Vergangenheit machen möchte ohne Geschichtsbücher zu wälzen, für den/die sind die historischen Romane bestens geeignet. (Was für ein Satz…) Zudem sind meine Eltern in den späten 20er Jahren an der Grenze zu Deutschland aufgewachsen (ZH und SH), demzufolge ist mein Interesse an solchen gut recherchierten und tiefgehenden Geschichten umso grösser. Historische Romane lese ich am liebsten in der Originalsprache. Die Autorin ist in Hamburg geboren und wohnt auch dort, da wo die Geschichte passiert. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, wodurch ihre Schilderungen im beruflichen Umfeld eines der beiden Hauptprotagonisten sehr glaubhaft sind.
Der Schreibstil war schnörkellos und bildhaft. Die Erzählweise der Autorin hat verhindert, dass aufgrund des Themas nicht durchwegs dunkle Bilder vor meinen Augen vorbeizogen. Dies schaffte sie mit ihrem teilweise ironischen Schreibstil. Zum Beispiel als Richard beim Ausfüllen der Meldebögen seiner Patienten meinte “Wie gut, dass sich keine Indianer oder Chinesen unter seinen Patienten befanden, die hatte man doch glatt bei der Klassifizierung vergessen.” Ich mochte die Originalzitate im Buch, z.B. als Richard im Zusammenhang mit der Zwangssterilisation aus “Mein Kampf” von Hitler zitiert. Verschiedene Schilderungen basieren auf Protokollen z.B. des Ausschusses für Wiedergutmachung im Bundestag 1961 (erst!). Dass es sich bei den Sachverständigen um dieselben ¨Ärzte handelte, die während der Nazidiktatur den Erbgesundheitsgerichten vorsassen und über die Zwangssterilisationen entschieden, hat mich … gemacht.
Ich fühlte mich oft mittendrin im Geschehen. Verschiedene Stellen im Buch haben mich tief berührt. Ich traue der Autorin zu, dass sie genau diese Schilderungen auf der Basis sorgfältiger Recherchen vorgenommen hat. Beispiel:
Stoff ist so knapp, dass sie in der Finkenau selbst die Neugeborenen nur noch in Zeitungspapier wickeln können, wenn die Eltern keine Kinderkleidung mitbringen.
Schockiert hat mich zudem die Schrift “Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens” und “die Berechnung, wie teuer die unproduktiven Geisteskranken die Gesellschaft kämen.”
Wenn man von “gestohlener Jugend” während den Corona-Jahren spricht, dann sollte man sich auf mehr als 10 Jahre dauernde Einschränkung in den 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts besinnen.