Grosses Familienepos und ein Jahrhundert Geschichte Georgiens
Ein wuchtiges Werk ist dieses Buch nicht nur wegen seinem Umfang von über 1200 Seiten. Nein, auch der Erzählfaden hat es in sich und dazu kommen noch die gut recherchierten historischen Hintergründe Georgiens vom Sturz des Zaren bis zum Zerfall der Sowjetunion.
Eines vorab - man kann sich das Lesen auch etwas aufteilen und zwischen den einzelnen der acht Büchern, in die das Werk gegliedert ist, eine Pause einlegen und ein anderes Buch lesen.
Die Ich-Protagonistin ist Niza und wie es der Klammertext im Titel sagt, schreibt sie für Niza, ihre Nichte, die Geschichte ihrer Familie auf. Sie beginnt chronologisch mit Ihrer 1900 geborenen Urgrossmutter Stasia, gefolgt von ihrer Urgrosstante Christine. Die Lebensgeschichten sind nicht klar voneinander abgetrennt, schliesslich ist es eine Familie, aber eine Person ist im jeweiligen “Buch” tragend.
Es sind erschütternde Geschichten, erzählt entlang dem historischen Geschehen. Wie sie miteinander umgingen, wie sie den Gegebenheiten begegneten, menschliches Unvermögen, Scheitern, Dramen, die sich immer wieder weiterziehen.
Ich wäre sicherlich erwünscht und geliebt empfangen worden, hätte Thekla die Zeit ausgehalten, die nicht mehr ihre war, hätte Stasia Peter Wsiljew folgen dürfen, hätte Ramas Iosebidse es unterbunden, dass seine Frau an jenem Silvesterball die Maske abnahm, hätte Ida die Hoffnung bezwungen, hätte mein Grossvater die Tür zwischen dem Meer und dem Horizong gefunden und sie geöffnet, hätte man keine Operationstische in Schulzimmern gebraucht, hätte Andro Eristawi erfahren, dass man Kitty wegen seines Irrglaubens ein Kind aus dem Bauch riss, hätte Kitty den Tod aufgehalten, wäre sie geblieben, hätte die Welt die Kleinen Grossen Männer kastriert, bevor sie ihren Samen weitersäen konnten, hätte man die Gespenster ihre Lieder zu Ende singen lassen und wäre der Hunger nicht störker gewesen als die Liebe. Ja , dann wäre alles besser gewesen, so, wie man es sich wünscht, dass es ist, wen man auf die Welt kommt: liebevolle Eltern, ein freies Land ohne Breschnew - und Lou Reed für alle.
Nicht nur der Wandel der Zeit, der sich beispielsweise in Umgangsformen zeigt, in der Kleidung, im technischen Fortschritt, kommt ganz einfach mit beim Erzählen, sehr stark kommen auch die politischen Ereignisse in Georgien und Russland über ein ganzes Jahrhundert zum Zug. Gerade das hat mich besonders gefesselt, dass ich so viel erfahren konnte über ein Land, das weniger stark thematisiert wird in den Medien, die Verflechtungen mit dem grossen Russland/der Sowjetunion. Beim Lesen war ich oft motiviert, etwas genauer nachzulesen, z.B. in der Wikipedie - zu Beria, zu paramilitärischen Organisationen, die genannt werden etc.
Was auch noch dazu kommt - es gibt ausserdem noch einen unheilvollen “Zauber”, der sich durchzieht - nämlich die unwiderstehliche Schokolade, die der Ururgrossvater kreiert hat und der das Rezept dazu vererbt hat.
Es war ein grosser Gewinn für mich mit vielen Stunden spannender Unterhaltung. Das Werk eignet sich bestimmt dazu, verfilmt zu werden.
Den Erzählstil fand ich leicht zu lesen. Es ist die Geschichte der Familie und des Landes, welches die Kraft dieses Buches ausmacht und nicht die Sprache an sich, die ich aber als absolut angemessen empfand. Die Geschichten sind sehr dramatisch, ohne dass die Erzählung schwülstig wird.