Es ist ein Werk, das seine Leserinnen und Leser fordert. Die fiebrig-traumhafte Atmosphäre und diese fliessenden Grenzen zwischen Realität und Traum schaffen ein Leseerlebnis, das ebenso faszinierend wie verstörend ist. Im Zentrum steht eine junge Erzählerin, die sich in einer zerrissenen Dynamik mit ihrer distanziert-traumatisierten Mutter und einer pragmatischen Grossmutter wiederfindet. Diese Beziehung ist geprägt von unausgesprochenem Schmerz und dem Wunsch, das familiäre Schweigen zu durchbrechen.
Die Suche nach Gerechtigkeit scheint eng mit dem eigenen Streben nach Identität verknüpft zu sein, was dem Ganzen eine zusätzliche psychologische Tiefe verleiht. Zugleich spiegeln die Geschichten die geringe Wertschätzung, die Frauen oft erfahren, auf eindringliche Weise wider.
Italien, als Kulisse, wird selbst zu einem vielschichtigen Charakter: verführerisch und düster, verstärkt es das Gefühl der Entfremdung der Protagonistin. Doch die Stimmung des Buches – oft wie Dantes Inferno voller Wut und Zerstörung – kann auch abstossend wirken, was mir persönlich den Zugang erschwert hat.
Wer aussergewöhnliche, poetische Erzählungen schätzt, die patriarchale Gewalt und Identitätssuche thematisieren, wird Favorita als mutiges, originelles Werk empfinden. Es bleibt spannend zu sehen, ob Steinbecks Werk für seine literarische Kühnheit beim '‘Schweizer Buchpreis am 17.11.2024’' ausgezeichnet wird.