Das Buch Anatol abholen behandelt relativ realistisch das Thema Einschulung bei Kindern mit einem von der vorherrschenden Norm abweichenden Verhalten und den daraus wachsenden Schwierigkeiten und dem gesellschaftlichen Druck auf eine Familie. Hier ist es die Familie Herbst, Vater Journalist, Mutter freischaffende Musikerin, Teenagertochter Pamina und eben Anatol, immer noch im Kindergarten, obwohl er eigentlich bereits zur Schule gehen müsste.
Erzählt wird die Geschichte aus Sicht der Mutter, die zunehmend an ihre Grenzen stösst und, wie es das Cover andeutet, immer wieder aus ihrem eigenen Rhythmus gerissen wird, um Anatol abzuholen. Anatol ist in seinem Verhalten für mein Empfinden ziemlich extrem, negative Muster haben sich bereits festgesetzt. Festgefahren ist auch das Schulsystem, das wenig Spielraum bietet und es beginnt eine zermürbende Odyssee durch verschiedene Institutionen.
Das ist alles sehr lebensnah dargestellt und die Kritik am (Schweizer) Schulsystem ist sicher berechtigt; ich kann das bestätigen. Aber mir haben die in diesem Buch gewählte Form und Ausarbeitung der Problematik nicht angesprochen. Es ist irgendetwas zwischen Roman und Tatsachenbericht. Für einen Roman hat es kaum literarische Momente, für einen Tatsachenbericht zeigt es die Hintergründe und Entwicklungsschritte von Anatol zuwenig klar auf. Ausserdem kommt das Ende unerwartet schnell und alles scheint sich plötzlich in Wohlgefälligkeit aufzulösen.
Trotzdem sind die Themen wichtig, der Umgang der Gesellschaft mit Abweichungen von der Norm, Neurodiversität, individuelle Schulformen, und sie liegen mir auch am Herzen. Leider habe ich nicht das ultimative Rezept, wie diese Themen am besten behandelt werden könnten und deshalb hat das Buch meine Achtung, vor allem die Gefühlswelt der Mutter fand ich eindrücklich geschildert.