“Anatol abholen” schildert auf eindrucksvolle und einfühlsame Weise den Alltag einer Familie mit einem Kind, das nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Trotz der schweren Thematik lässt sich das Buch erstaunlich leicht lesen und zieht den Leser regelrecht in die Geschichte hinein. Besonders die Mutter Jil, auf deren Schultern die Hauptlast der Situation ruht, steht im Fokus des Mitgefühls. Ihr gesamtes Leben gerät aus den Fugen: Die Familienstruktur bricht auseinander, nichts lässt sich planen, und kaum scheint eine kurze Atempause in Sicht, folgt die nächste Hiobsbotschaft. Es ist kein Wunder, dass sie an ihre Grenzen stösst.
Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Es zeigt aus einer sehr persönlichen Perspektive, wie das verkrustete Schulsystem und die Gesellschaft an ihre Grenzen geraten, wenn es um Kinder geht, die nicht in die vorgegebenen Raster passen. Die oft gepriesene Integration versagt. Dennoch ist es auch ein hoffnungsvolles Buch, denn es gibt all jenen Familien und Kindern, die nicht der Norm entsprechen, eine wichtige Stimme und kann bei Aussenstehenden vielleicht mehr Verständnis wecken. Kinder zu erziehen ist schon unter „normalen“ Umständen oft eine grosse Herausforderung – wenn jedoch „etwas nicht stimmt“, wird es zur echten Belastungsprobe. Schon lange hat mich kein Buch mehr so tief in das Leben einer Protagonistin eintauchen lassen.