„Rückkehr nach Lemberg“ von Philippe Sands ist ein tiefgründiges und eindringliches Sachbuch, das historische, juristische und persönliche Dimensionen miteinander verwebt. Es ist eine faszinierende Erzählung, die nicht nur die Geschichte des Holocaust und der Nürnberger Prozesse beleuchtet, sondern auch die Ursprünge moderner Begriffe wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufdeckt.
Das Buch ist in erster Linie eine Reise in die Vergangenheit, die mit Sands’ Grossvater beginnt. Dieser floh in den 1930er-Jahren aus der Stadt Lemberg, die heute als Lwiw in der Ukraine bekannt ist. Im Zuge seiner Recherchen deckt Sands die Geschichten zweier Juristen auf, die ebenfalls aus Lemberg stammten: Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin. Diese Männer prägten das internationale Recht, indem sie die Konzepte „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Völkermord“ einführten, die später bei den Nürnberger Prozessen eine zentrale Rolle spielten.
Philippe Sands schafft es meisterhaft, historische und biografische Elemente zu einem fesselnden Narrativ zu verknüpfen. Besonders beeindruckend ist, wie er den Leser durch persönliche Geschichten, historische Ereignisse und rechtliche Entwicklungen führt, ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Die Erzählung springt zwischen Sands’ eigener Familiengeschichte, den Entwicklungen des Zweiten Weltkriegs und den biografischen Erzählungen der beiden Juristen hin und her, was den Blick auf die grosse Tragweite von persönlichem und politischem Schicksal eröffnet.
Ein zentraler Aspekt des Buches ist der Kontrast zwischen den Konzepten „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die Lemkin und Lauterpacht entwickelt haben. Sands zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie diese juristischen Begriffe nicht nur aus der Notwendigkeit heraus entstanden sind, das Grauen des Holocaust zu erfassen, sondern auch, wie sie unsere heutige Auffassung von internationalem Recht und Gerechtigkeit prägen.
Das Buch ist gut recherchiert und zeigt Sands’ akribische Arbeit, die in die Detailfülle und die historische Tiefe des Textes eingeflossen ist. Gleichzeitig liest es sich, trotz der schweren Themen, erstaunlich flüssig und spannend. Besonders die persönliche Ebene – die Verbindung von Sands’ eigener Familiengeschichte mit den grossen weltpolitischen Entwicklungen – macht das Werk zu einem emotionalen Erlebnis.
Ein Kritikpunkt könnte sein, dass die komplexen rechtlichen und historischen Zusammenhänge manchmal zu anspruchsvoll für Leser ohne Vorkenntnisse sein könnten. Auch sind einige Passagen, insbesondere die juristischen, nicht immer leicht zugänglich. Dennoch gelingt es Sands, die wichtigsten Punkte klar und nachvollziehbar darzustellen.
Insgesamt ist „Rückkehr nach Lemberg“ ein eindrucksvolles und bewegendes Buch, das nicht nur eine Reise in die Vergangenheit darstellt, sondern auch wichtige Fragen zu Gerechtigkeit, Recht und Erinnerung aufwirft. Es ist eine bemerkenswerte Mischung aus historischer Analyse, juristischer Diskussion und persönlicher Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Sands bietet dem Leser eine tiefgreifende Reflexion über die Verbrechen des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf die Gegenwart.