Am Anfang steht die Feststellung der Hebamme: Es ist ein Mädchen. Und dann die riesige Enttäuschung des Vaters: kein Kind, nur ein Mädchen. Erbarmungslos schildert Laurens aus der Sicht der Erinnerungen des Kindes und später der Frau, wie sich diese Minderwertigkeit festsetzt, welches Leid und welche Verunsicherung die minderwertige Behandlung der Mädchen und Frauen zuerst im jungen Leben des Kindes, dann des Mädchens in der Schule, der Jugendlichen bewirkt. Übergriffe werden totgeschwiegen, schmutzige Wäsche wird, wenn überhaupt, nur in der Familie hinter vorgehaltener Hand gewaschen. Mit feinem Humor und grosser Sprachkunst werden das Unverständnis und die skurrilen Folgerungen geschildert, die sich das Kind aus den hilflosen Versuchen der Erwachsenen, Sexualität verschleiernd zu erklären, zusammenreimt. Das Kind, das Mädchen, die junge Frau bleibt in ihrer Scham allein mit allen Zweifeln und Fragen; die Suche nach dem, was Liebe ist und sein könnte endet in Einsamkeit und Verlassenheit.
Wie sich diese Erfahrungen der Kindheit im Leben der Frau auswirken, wie sie kämpft, leidet, auch bei ihrem Mann auf die gleichen Muster, Verharmlosungen und Abwertungen stösst, ist bedrückend. Dass ihr erstes Kind, ein Junge, bei der Geburt stirbt, reisst sie erneut in tiefe Fassungslosigkeit. Ob Alice, ihr zweites Kind, diesen Verlust ersetzen kann, ob sie nicht viel mehr dieses Kind in eine Rolle drängt, damit alte Muster wiederholt, einen Fluch auf dieses Mädchen legt? Erfrischend dann, wie die Mutter in manchen Konflikten mit ihrer Tochter durch deren Unverkrampftheit und Rollenoffenheit zu neuem Leben und zu grösserer Freiheit findet.
Durch das autofiktionale Schreiben nimmt Camille Laurens die Leserin und den Leser mitten in eine bedrückende Realität, eine misogyne Gesellschaft hinein, die man eigentlich nicht wahrhaben will und in welcher Mann und Frau nicht leben möchten.
Es ist ein unwahrscheinlich starkes Buch, nicht alles ist leicht zu verdauen und macht betroffen und nachdenklich. Bis zum Schluss bleibt die Spannung, wie diese Lebensreise wohl ausgehen wird, Versöhnung mit der eigenen Geschichte, den Verletzungen und Zumutungen möglich wird, ob sich Mutter und Tochter verstehen können, ja, ob die grosse Frage, die sich die Frau immer wieder stellt: was Liebe ist – durch das gelebte Leben beantwortet werden kann.