Dieses Buch von Alex Schulman hat mich von Beginn weg nicht mehr losgelassen und wird eines der Bücher sein, die sich mich tief einprägen. Es hat kein bisschen was von einem Thriller, Krimi oder einem sensationsgeladenen Werk und doch hochspannend, quälend schmerzvoll und gleichzeitig mit einer unterschwelligen Hoffnung, dass emotionales Überleben möglich ist. Was es ausmacht ist das Setting, die Sprache, die Charakterisierung der Protagonisten, die Umgebung, in der es spielt.
Es geht um die Familie von Benjamin, dem mittleren von drei Söhnen. Nils ist dreizehn Jahre alt zu Beginn der Erinnerunen, Pierre sieben und er selber zehn. Benjamin ist jener, aus dessen Sicht erzählt wird. Die Familie - soll man hier von einer “dysfunktionalen” Familie reden? Das würde zu wenig aussagen, gibt dem Schmerz, der Verlassenheit, Lieblosigkeit zu wenig Ausdruck. Es ist vor allem das verheerende Verhalten der Mutter, den Kindern und dem Vater gegenüber, welches dieses Elend auslöst. Allerdings gibt es da auch die andere Seite, jene wie die Eheleute zueinander stehen.
Die drei Brüder, nun erwachsen, sollen die Beerdigung der Mutter begehen und deren Asche verstreuen. Die Erinnerungen an die Ferienzeiten im Sommerhaus in der Kindheit, durchsetzt mit einigen Ereignissen zwischen den Brüdern in der Schule und der Tag, an dem der Abschied von der Mutter begangen wird, bilden die zwei Erzählstränge des Buches.
Das Buch ist eingeteilt in Kapitel im Wechsel von Erinnerung an die Kindheit und dem Tag, an dem die Asche der Mutter verstreut werden soll. Die Erzählung ist zeitlich gegenläufig, der eine Erzählstrang von der entferntesten Vergangenheit zur Gegenwart und der andere vom Ende des Tages des Abschieds von der Mutter bis zum Anfang dieses Tages.
Gewisse Punkte werden wiederholt wiedergegeben - wörtlich - also beispielsweise auch Äusserungen. Nicht häufig und ich habe nicht ein bestimmtes System dahinter bemerkt, aber es fällt auf. Denn der Erzählstil ist so, dass man den Text zwar fast verschlingt, ihn aber ganz bewusst liest - es gibt nichts Unwichtiges, keine Garnitur oder Abschnitte so zum Ausruhen.
Die Szenen, welche die Familienerinnerungen wiedergeben, spielen im und um das Sommerhaus mit dem Wald, dem See. Das Abgesondertsein der Familie an diesem Ort, trägt das ihre zur Atmosphäre bei, die Einsamkeit, quälenden emotionalen Schmerz, Hilflosigkeit und tiefste Beklemmung vermittelt.
Es ist ein Buch, das man nicht “schön” nennen wird, aber grossartig. Wie es dem Autor gelingt, einen in diese Stimmung, diesen Schmerz hineinzuziehen und gleichzeitig die Hoffnung, die offenbar auch in den Brüdern lebt, dass ein Finden und ein Weg, das Vergangene zu bewältigen besteht, mitzunehmen, finde ich grosse Kunst. Es macht nachdenklich und nimmt vollständig mit An einer Stelle war ich so überwältigt, dass ich das Buch für ein paar Minuten weglegen und mich sammeln musste. Ich kann es sehr empfehlen, wenn man sich diesen Abgründen stellen mag. Alex Schulman ist für mich in diesem Jahr als Autor *die* Entdeckung.
- Er (Pierre) nimmt eine Pommes, knabbert sie herunter, wie man normalerweise Salzstangen isst, und legt das Stück, an dem er sie angefasst hat, auf eine Serviette. Benjamin stellt fest, dass da schon mehrere Enden liegen.
“Warum isst du das letzte Stück nicht?”, fragt er. (Benjamin)
“Weil es eklig ist. Finger sind schmutzig, man ist damit überall.”
Benjamin mustert ihn, wie er ein Kartoffelende nach dem anderen weglegt, und plötzlich überkommt ihn eine zärtliche Zuneigung zu seinem Bruder, denn darin, wie der kleine Haufen auf der Serviette wächst, meint er ein Zeichen zu erkennen, dass auch Pierre etwas mit sich herumträgt, in dieser Eigenart steckt eine Geschichte.
- …und Benjamin sah Pierre, wie er abseitsstand, unbemützt, er sah seine dünne, dünne Jacke, die blau angelaufenen Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Da wurde Benjamin plötzlich wütend: Warum hatten Mama und Papa ihm keine dickere Jacke gegeben? Wieso trug er keine Mütze und keine Handschuhe? Erst auf dem Weg zurück ins Schulgebäude merkte er, dass er selbst fror, und dass seine eigene Jacke ebenso dünn war wie die seines Bruders. Langsam zählte er eins und eins zusammen, lernte sich selbst kennen, indem er sich umsah. Der Schmutz zu Hause, die Urinflecken um die Toilette herum, die knisterten, wenn Papa mit Hausschuhen hineintrat ….