Wow, was für ein Stoff! Eigentlich hatte ich gar keine Vorstellung, worum es geht, als ich anfing. Dann aber realisierte ich, dass das Buch eine Art Hommage an seine Grossmutter bzw. seine mütterliche Line, Seite war. Eine Mischung aus Autobiographie, Autofiktion, Sozialkritik, historischem Roman und Spurensuche, dabei bewusste “Vergewaltigung” von Sätzen, Verben unterschlagend, teils Dialekt, teils Helvetismen (französisch angehaucht) und immer wieder Coming-Out als Non-Binärer. Er fühlt sich als Frau in einem Männerkörper, lackiert sich bewusst Nägel und Zehen, fickt (!) bzw. hurt telquel herum. Gibt seiner Mutter zu verstehen, dass er ein Intellektueller ist, obwohl er ihr zwischen die Matur reingerutscht ist und sie nur Coiffeuse wurde, also nicht studieren konnte.
Der Roman in der Ich-Form geschrieben, wirkt autobiographisch. Aber ob es das wirklich ist? Männer kommen nciht gut weg, ausser als Sexobjekte.
Sein Verhältnis zu seiner Mum/Meer ist zwiespältig; er hält sie für kalt. Erfährt gegen Ende des Buches, dass sie nach der verschollenen Schwester seiner Grossmutter (Grossmeer) benannt wurde Irma. Auch das Verhältnis seiner Grossmutter Rosmarie zu deren älterer, früh verstorbener Schwester Rosmarie taucht immer wieder auf. Und die Männer der Familie wirken wie Schlappschwänze gegenüber den starken Frauen.
Den roten Faden des Buches bildet neben der Grossmutter, die dement wird, die Blutbuche, der Baum im Familiengarten, sein Trost. Also könnte man auch hier sagen: der Stamm-Baum. Diesem Stamm-Baum widmet er ziemlich viele Kapitel, die vom 13.Jahrhundert (!) bis ins 19.Jahrhundert reichen, beschreibt die weibliche Linie, seine Urahninnen. Es wimmelt also von Müttern, Mutterkuchen etc.
Im 5.Kapitel wechselt er dann die Sprache, schreibt in Englisch. Obwohl ich recht gut Englisch kann, ist es eine Art “Gassen-Englisch”, was er sich hätte sparen können, denn: Dreht man das Buch um zur letzten Umschlagkappe, ist eben dieses 5.Kapitel in jenem Kim-eigenen Deutsch geschrieben! Was soll das? Wozu das Ganze?
Dann driftet er ab zu Frauenthemen, wie dass gebärunfähige Frauen unbrauchbar wären und operativ ihre Gebärmutter (Uterus) verlören, um Krebs zu vermeiden. Oder zu Homosexuellen, die es vermeiden, öffentlich ihre Gesinnung zu zeigen, z.B. mittels lackierten Nägeln. Oder dann zur:m Bildung/Studium des 21.Jahrhunderts, wo das Geld oder das Geschlecht nicht mehr darüber bestimmt. Ja, das Geschlecht: das zentrale Thema des Romans. Grossmutter und Mutter akzeptieren Kims Anders-Sein. Seine Grossmutter noch mehr als die Mutter, die schliesslich auch mit ihrer Freundin und derem baldigen Baby zusammenzieht.
Was mich allerdings enttäuscht hat: Kims, also des Autors, Arroganz: dass er auf seine Mutter lange herabsieht, bis er ihre recherchierte Biografie der Grossmutter findet und liest. Ausserdem die unzähligen Sexszenen, ob jetzt geträumt oder erlebt. Wirkt verstörend, wenn er jemanden - jemenschen (er vermeidet jemand, niemand zu sagen) - anmacht, gleich zur Sache geht, erigiert wird und sich in seinen Orgasmen ergiesst. Könnte man vergessen.
Alles in allem ein überraschender, erfrischender Roman, der aber als Schauspiel enttäuscht. Aber dieses Buch lässt sich nicht 1:1 auf die Bühne bringen bzw. man könnte es schon, tat man aber nicht. Das was aus dem Schauspiel geworden ist, kann man vergessen, das Buch, die Vorlage, aber nicht. Ein Buch, ein Deutsch der Neuzeit, bewusst verstümmelt. Für Leser von Kims Generation (Z oder Y) verständlich, aber für gesetzte Semester (Senioren) kaum nachvollziehbar. Ein Freund kapitulierte nach 20 Seiten!