Zora del Buono startet als allwissende Erzählerin in der dritten Person unmittelbar in ihre nur einen Tag umfassende Novelle «Gotthard». Aus unterschiedlichen Perspektiven schildert sie die Ereignisse dieses 15. Mai in der nicht allzu fernen Vergangenheit (vermutlich zwischen 2010 und 2015).
Die Perspektivwechsel sind reizvoll, weil sie für Abwechslung sorgen und wir so einen Aussenblick auf die Figuren werfen, nachdem wir sie zunächst direkt kennengelernt haben. Aber wir müssen etwas aufmerksamer lesen, um den Überblick über die Figuren und die mit ihnen bereits verknüpften Informationen zu behalten. Der Tag schreitet chronologisch voran und zu welcher Uhrzeit und bei welcher Figur wir uns befinden, macht del Buono immer kenntlich.
Ihr trockener Humor hat mich an einigen Stellen überrascht. Die Figuren selbst sind zutiefst menschlich, teils wirken sie tragisch. Wehmütig blicken einige von ihnen auf ihr Leben zurück. Es geht um (zerplatzte) Träume und Sehnsüchte, Begehren, Schuld und Geheimnisse – alles vor dem Hintergrund des Baus am Gotthard-Basistunnel. Als es gegen Ende zum Höhepunkt der Erzählung kommt, traf mich das fast überraschend, weil ich den Spannungsaufbau gar nicht unbedingt als solchen wahrgenommen hatte.
Ein Stück Schweizer Zeitgeschichte, literarisch verpackt. Fesselnd, unerwartet und intensiv.