Bereits auf dem Klappentext steht, dass die Colonia Dignidad eine Rolle spielt und ich war sehr gespannt, wie Jonuleit die furchtbaren Geschehnisse um diese Foltersekte in ihrem Roman verarbeitet.
Mit den Freundinnen Ruth und Christa hat Jonuleit zwei sehr unterschiedliche Protagonistinnen geschaffen. Während Christa schnell in den Bann des Sektenführers Paul Schäfter gesogen wird und lange keine Probleme in dem sieht, was dieser vermittelt, steht Ruth ihm eher skeptisch gegenüber. Ihre Anziehung bezieht sich auf den schneidigen Erich, weniger auf den Glauben, der durch Schäfer vermittelt wird. Dadurch gibt es einerseits einen Blick von außen auf die Geschehnisse, insbesondere während Schäfer und seine Jünger*innen sich noch in Deutschland aufhalten.
Durch Christas Sicht, welche den beklemmensten Strang der Geschichte erzählt, merkt man aber auch, wie es Schäfer gelang, die Menschen ruhigzuhalten und sicherzustellen, dass es keinen Aufstand gab. Aus dieser Perspektive erfährt man auch das meiste über die Gräueltaten der Sekte während ihrer Zeit in Chile.
Zugleich gibt es eine Sichtweise aus 2010, die nachträglich auf das Ganze blickt und die vermutlich die gleichen Fragen umtreiben, wie die meisten von uns: wie konnte es so weit kommen? Und warum haben diese Menschen so bereitwillig mitgewirkt in einer der schlimmsten Sekten, von der ich je gehört habe?
All diesen Fragen geht Anja Jonuleit in einer spannend und einfühlsam geschriebenen Geschichte auf den Grund. Man möchte besonders Christa sagen: „Das nimmt kein gutes Ende, mach, dass du da wegkommst!“ Zugleich schüttelte es mich manchmal bei den beschriebenen Folterungen, egal ob psychischer oder physischer Natur. Dabei beschränkte sich Jonuleit, nach allem, was man über die Colonia Dignidad weiß, in ihren Beschreibungen wohl auf die „harmloseren“ Taten von Schäfer und seinen Vertrauten. Die Taten im Zusammenhang mit der Pinochet-Diktatur, beispielsweise, werden nur vage angedeutet. Gleiches gilt für den von Schäfer vorgenommenen sexuellen Missbrauch kleiner Jungen.
Rabenfrauen ist kein leichtes Buch. Es behandelt einige wirklich heftige Themen, nimmt einen mit und man vergisst es so schnell nicht. Dennoch empfehle ich es euch von Herzen. Nicht nur, dass die Colonia Dignidad eine deutsche Sekte ist, die, gerade angesichts der politischen Implikationen und furchtbaren Taten ihrer Mitglieder, überraschend wenige kennen. Anja Jonuleit hat wieder ein fesselndes, spannendes, emotionales und informatives Buch geschrieben, das einfach sehr lesenswert ist!