Wieder ein Buch über den Holocaust. Brauchen wir das? JA! Warum?
1) Nadine Olonetzky erzählt die Geschichte ihres Vaters,…
2) … und wie seine Erfahrungen ihre Kindheit beeinflussten.
3) Sie zeigt, was das alles mit heute zu tun hat…
4) … in einer einzigartigen Form…
5) … und mit Fokus auf die Zeit nach 1945.
So viel in Kurzform.
Mir hat allein der Aufbau ihres Buches enorm gefallen. Sie tastet sich zunächst über Fotoalben an die Geschichte ihres Vaters heran. Alben, die er nach dem Kennenlernen ihrer Mutter anzulegen beginnt, in die er Einträge heftet. Es sind erste Anhaltspunkte für Nadine Olonetzky im Verstehen ihres Vaters. Er spricht erst als sie 15 Jahre alt ist über seine Zeit in Deutschland, über Zwangsarbeit, Untertauchen, Flucht, wie er in die Schweiz und sein Vater in einem Lager in Osteuropa zu Tode kam. Vorher weiss sie das nicht, aber sie sieht Skelette in den Zimmern ihres Zuhauses. Sie spürt, da ist etwas, über das nicht geredet wird, kann es aber selber nicht in Worte fassen. Sie bleibt nach diesem einen Gespräch über den Holocaust mit vielen Fragen zurück. Fragen, die sie ihm nie gestellt hat.
Jahre nach seinem Tod fordert sie Dokumente an in Deutschland und der Schweiz. Über 2’500 Seiten hält sie irgendwann in den Händen und die geht sie mit uns gemeinsam durch. Sie dokumentieren die Bemühungen ihres Vaters nach Entschädigung nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Seine Bemühungen um Anerkennung des erlittenen Leids. Allein um dieser Aufzeichnungen willen lohnt sich die Lektüre, denn das ist ein Aspekt, über den ich bisher nur selten las. Olonetzky bleibt bei aller Ungerechtigkeit, dem Zynismus, der Verschleppung von Entschädigung und Verharmlosung von Unrecht unaufgeregt – ganz anders als ich. Sie lässt den Blick immer wieder von der Vergangenheit in ihren Garten schweifen. Was sie dort sieht, verankert sie im Jetzt und dient gleichzeitig als vielseitige Metapher für Neuanfang, aber auch Kontinuität, für Trübungen und vieles mehr. Auch diesen Aspekt empfand ich als einzigartig und enorm lesenswert. Gleiches gilt für ihre Recherchen zu den Stationen im Leben ihres Vaters und Grossvaters bis 1945, darunter vor allem die Ereignisse zur NS-Zeit in Stuttgart sowie im Transitghetto Izbica – ihr genauer Blick auf ihre Familiengeschichte schärft auch unsere Kenntnis über die damaligen Ereignisse.
Auch auf die Entstehung des jüdischen Staates schaut sie. Auf die damit verbundenen Hoffnungen, auf dabei zugefügtes Unrecht und wie sich die Geschichte ein um’s andere Mal wiederholt. Ähnlich wie die Ereignisse im Garten. Olonetzky beginnt und endet ihre Erzählung im Winter, sie beginnt und endet mit Bildern in Fotoalben.
Den genauen Blick für die Betrachtung von Fotos, deren Perspektiven, was sie an Licht und Schatten, an Gesagtem und Nichtgesagtem abbilden, bringt sie von Berufs wegen mit und auch das ist spürbar bei der Lektüre – wie genau sie hinschaut, wie differenziert sie das Gesehene betrachtet und wie bewusst sie sich ihrer eigenen Perspektive dabei ist.
Die unaufgeregte, ruhige Erzählweise sind einerseits ein Segen der Lektüre und haben es mir andererseits erschwert, am Ball zu bleiben. Gleichzeitig eignet sich das Buch, auch wegen mancher Wiederholungen, womöglich eher zum episodenhaften Lesen statt zum Durchlesen in einem Rutsch?! Mich hat «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist» jedenfalls auf vielfältigste Weise beeindruckt und ich werde die Geschichte von Nadine Olonetzkys Familie wohl nie vergessen.