Teresa hockt im Schrank in der Brockenstube und zieht Linien zwischen Namen, versucht herauszufinden, wie der Hase wirklich gelaufen ist. Hat ihr Grossvater Wede tatsächlich den ersten Mann der Grossmutter ihres Partners erschossen? Verstehen will sie, was gewesen ist, wie alles gekommen ist, wie wahr all die erzählten und verschwiegenen Geschichten sind. Doch Mirco, ihr Mann, möchte vorwärtsschauen, nicht mehr grübeln, jetzt, da er sich aus seiner verstrickten Vergangenheit befreit hat. Aber ist es nicht so, dass man nur erahnen kann, wohin ein Hase läuft, welche Haken er schlägt, wenn man weiss, woher er kommt – so wie es Teresas Grossvater Wede gesagt hat?
Rebecca Salm zieht einen mit ihrer schönen Sprache mitten hinein ins Geschehen und ins Ungewisse ihrer Familiengeschichte. Ja, verschachtelte Geschichten sind es, die erzählt, erfunden, verschwiegen werden. Dicht sind die Abschnitte aus den Leben der Beteiligten erzählt, in ausgewählten, stimmigen Worten; eigentlich schwere Kost ist leicht und schön zu lesen, gerade weil man nie weiss, welche Haken der Hase noch schlagen wird.
Wiegen Erinnerungen schwerer, wenn man sie im Dunkeln lässt, und werden sie als erzählte Geschichten leichter? So versteckt und im Dunkeln wie im Schrank sind die Geschichten hinter den Geschichten der Personen, und immer gibt es wieder einen Riss im Holz, durch den ein dünner Lichtstrahl ein kleines Detail des bis anhin Verborgenen beleuchtet. Ob Opa Georg der Grossvater von Mirco ist? Der Hase schlägt seine Haken. Und jede Geschichte öffnet neue Leerstellen, die miteinander verbunden sind durch die Fehler des Lebens, die dann das gelebte Leben sind.
Durch noch so geschicktes und akribisches nachforschen, kombinieren und vermuten lässt sich vergangenes Schweigen nicht klären. Und doch: was aus Scham verschwiegen wurde, beeinflusst das Leben der nachfolgenden Generationen. Mirco möchte erneut schweigen, Teresa aber reden. Welche Geschichten kann man ruhig auf sich beruhen lassen, und welchen muss man nachgehen, und dann vor allem: welche Geschichte lebe ich weiter? Lass ich mich rückwärts festschreiben oder wage ich trotz ungewisser Vergangenheit den Schritt nach vorne?
Immer deutlicher wird, dass es so ist, wie Bruno sagt: «Vielleicht ist es nicht, wie du denkst». (149). Die Verstrickungen greifen immer weiter um sich, und doch lässt sich beinahe nichts klar sagen. Vergnüglich ist es alleweil zu lesen, immer wieder verblüfft Rebekka Salm mit treffenden Wortspielen:
Plaudern «über nichts von Bedeutung, nur über die kleinen Dinge, die erst als Summe von Bedeutung sind». (142)
«Wie viel wahr steckt eigentlich in wahrscheinlich? Und wie viel Schein, der gewahrt werden will»? (144)
Und als Fazit bleibt: «So könnte es gewesen sein. Ich bin es, die Geschichten erschafft. Nicht umgekehrt». (194)
Ja, die Zeit läuft nur vorwärts, sie schlägt keine Haken!
Es ist einfach genial, wie die Geschichten ineinandergreifen und am Ende doch aneinander vorbeilaufen. Wie Rebekka Salm das ganze eigene Konstrukt, die gefüllten Leerstellen, die fehlenden Geschichten erfindet und am Schluss mit wenigen Pinselstrichen (Frauenkleider, Mumps, Irgendeiner) ad absurdum führt. Und am Ende steht die Frage, ob nicht Teresa und Mirco, sondern Alioth und Teresa über Umwege miteinander blutsverwandt sind.
«Die Wahrheit ist auch nur ein Märchen, an das alle glauben». (10)
«Es ist die Geschichte, die aus der Brockenstube hinaus- und in eine andere, bessere Zeit hineinführt». (13)
«Und so frage ich mich, ob ich es bin, die Geschichten erschafft, oder ob umgekehrt die Geschichten mich erschaffen». (13)
Weder Schweigen noch Scham können die Geschichte ändern, so wie sie wirklich war; und auch wenn man ihre Leerstellen durch Geschichten füllt, bleibt nichts Andres, als vorwärts zu leben, denn wir sind weder Jäger noch Hasen.
Noch einmal: genial geschrieben und komponiert, die kleinsten Details als stimmige oder in die Irre führende Verweise auf mögliche Verbindungen. Die einzelnen Charaktere sind fein gezeichnet, einfühlsam, weder entschuldigend noch verurteilend, einfach so wie sie das Leben geformt hat.
Ich freue mich schon heute auf den nächsten Indizien- und Episodenroman von Rebekka Salm.