In diesem ergreifenden Roman mischen sich eine gefühlvoll geschilderte Liebesgeschichte zweier älterer Menschen mit den Erinnerungen ihrer früheren Leben und dem wachsenden Einfluss einer Krankheit, die einen Keil zwischen die Liebenden treibt.
Die beiden Figuren Herta und Jakov sind nur skizziert, ihre Erlebnisse vervollständigen ihre Porträts im Bild des Lesers.
Da ist Herta, deren Mann sie mit ihren Töchtern sitzen liess: Sie nannten ihn Palpagalli… mit dieser Frau war er dann auch weggezogen. Sie war zurückgeblieben, mit Garten, 2 Töchtern und einer Kränkung, die nicht verjähren wollte. p. 152
Würde sie in Jakov, über dessen Seesack sie am Flughafen Rhein-Main fast gestolpert wäre, die grosse Liebe finden?
Und da ist Jakov Blumental, dessen Vater vor dem 1. Weltkrieg in die Staaten ausgewandert und in das Land der Cheyenne gezogen, wo er eine Textilfabrik aufmachte und mit Tweedstoffen reich wurde. p.43
Aber er verbirgt ein grosses Geheimnis, ein traumatisches Lebensereignis: seine Liebesbeziehung zu seiner Stiefmutter.
Obwohl er versucht, diese Erinnerung tief ins Unterbewusstsein zu verdrängen, kommt sie immer wieder hoch, so stark verwahrt, dass sie nicht mehr abrufbar war, vom Autor als «untertags» betitelt, ein Begriff einerseits aus dem Bergbau, andrerseits aber auch mit der Bedeutung «tagsüber».
In Jakovs Demenz ist seine grosse Liebe verblieben, gleichsam versteinert zwischen Gedächtnisablagerungen und Gehirnschuttverwicklungen, Denkhalden und Müllbergen. (Zitat aus Urs Faes “Ins Schweigen reden”)
Wenn dann Demenz, Alter und Erschöpfung fortschreiten, verliert sich mit der Verlangsamung der Hirnleistung die Fähigkeit, Verdrängtes zurückzuhalten, und das ins Unterbewusstsein Versenkte drängt sich gewaltsam wieder hervor, dissoziative Amnesie, für die Urs Faes den Ausdruck Memorial-Gap-Syndrom, Erinnerungslücke kreiert.
Gelingt es den beiden, durch eine Reise in die Vergangenheit von derselben Abschied zu nehmen und anzukommen?
Primär ist es aber eine Liebesgeschichte, erzählt in Rückblenden aus der Sicht der Tochter Eliane. Herta liebt Jakov, opfert sich für ihn auf, versteht ihn ohne Worte. Es geht um die bedingungslose Hingabe.
Auch die fortschreitende Demenz wird ohne Sentimentalität beschrieben: *Ich bin vergesslich geworden, aber ich vergesse nicht, dass ich vergesse.*p. 121; die Krankheit ist nicht aufgebläht, sondern erklärt Jakovs Verhalten: Nun sei es aber so, dass man mit der Krankheit nicht nur das Gedächtnis in der Gegenwart verliere, sondern dass auch Vergangenes wieder stärker hervordränge. p. 132
Eine Aussage, die dieses schöne Buch zusammenfasst: Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück. p. 194
Fazit:
Absolut lesenswert.
Voller Denkanstösse.
Hoch emotional.