Literarturstudent Arda liegt auf der Intensiv mit ungewissem Ausgang. Während er auf die nächste Visite, Blutentnahme und vor allem Besserung wartet, beginnt er – für den Fall, dass daraus nichts wird – an seinen Vater zu schreiben. Einen Vater, den er nie kennenlernte, der lieber zurück in die Türkei und dort ins Gefängnis ging, als in Deutschland zu bleiben, bei seiner Familie. Arda ist mit dieser Leerstelle im Leben aufgewachsen und hat sich dabei oft gefragt, wer sein Vater ist und warum er ging. So schreibt er ihm jetzt, erzählt seinem Vater von seinem Leben, aber auch dem seiner Schwester und dem seiner Mutter, um so am Ende hoffentlich verzeihen zu können.
Ich-Erzähler Arda schildert sein Leben nicht geradlinig. Er beginnt im Krankenhaus und springt von da durch die Jahre – und durch die Perspektiven. Denn er erzählt seinem Vater, dessen Position wir in diesem Setting einnehmen, nicht nur von sich selbst, sondern geht als allwissender Erzähler bis in die Kindheit und Jugend seiner Mutter und seiner Schwester zurück, damit wir, aber vermutlich auch er selber, verstehen können, wie sie zu den Menschen geworden sind, die sie heute sind.
Ich liebe Necati Öziris Erzählweise, die Perspektivwechsel, die sprachlichen Feinheiten, wie er Ardas Erfahrungen mit uns teilt (nach dieser Lektüre ist unter anderem der Besitz des deutschen Passes keine Selbstverständlichkeit mehr), wie unsentimental und gleichzeitig empathisch er Arda schlimme Erlebnisse schildern lässt und wie lebendig unter anderem Ardas Jugend vor unserem inneren Auge wird.
«Vatermal» ist die fesselnde Geschichte einer Familie, eine Geschichte der Versöhnung, ein Spiegel für unsere Gesellschaft. Tragisch und zugleich leicht, mit viel sprachlichem Feingefühl: Schlicht grossartig!
Für Fans von Fatma Aydemirs «Dschinns» oder Behzad Karim Khanis «Hund Wolf Schakal».