Aus der umfassenden Büchersammlung seines verstorbenen Vaters erhielt Rafik Schami 2014 sechs Bücher, bevor die Sammlung dem syrischen Bürgerkrieg zum Opfer fiel. Eines der sechs Bücher ist eine handgeschriebene Geschichtensammlung, datiert auf Ostern 1890, mit dem Titel «Wenn du erzählst, erblüht die Wüste». Schami beschliesst, die Geschichten ins Deutsche zu übersetzen, dabei leicht anzupassen, damit sie verständlicher werden und ihnen eine Rahmenhandlung zu verleihen, wie das bei solchen Sammlungen scheinbar üblich war/ist. Das Ergebnis seiner liebevollen Arbeit liegt seit 2023 bei Hanser vor. Hundert (?!) einzelne Erzählungen bettet der Autor in die Geschichte der von Trauer und Kummer geplagten Prinzessin Jasmin ein. Der Geschichtenerzähler Karam erzählt mithilfe der Bürger der Stadt an zehn aufeinanderfolgenden Nächten Geschichten zu bestimmten Themen in der Hoffnung, der Prinzessin ihre Lebensfreude zurückzugeben.
Entsprechend ist das Buch auch aufgebaut: Schami beginnt damit, wie er das ursprüngliche Werk erhalten hat, startet dann seine Rahmenhandlung der Prinzessin Jasmin und des Kaffeehauserzählers Karam, um in den folgenden zehn Kapiteln die einzelnen Erzählungen aus «Wenn du erzählst, erblüht die Wüste» zu präsentieren. Die Themen der jeweiligen Abende umfassen Mut/Angst, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Aberglaube/Vernunft, Liebe u.v.m., die Erzählungen sind mal frech, abenteuerlich, überraschend, kommen teils in Form von Fabeln oder Analogien daher und haben meist eine ausgeprägte Moral.
Es bietet sich an, das Buch langsam zu lesen, Nacht für Nacht, also Kapitel für Kapitel, oder vielleicht sogar noch bedächtiger und genussvoller und Erzählung für Erzählung. Für wen es kein Sakrileg darstellt, lege sich dabei am besten noch Stifte oder Post-Its zum Markieren von Lieblingsgeschichten bereit. Ich kann mir auch gut vorstellen, das Buch immer und immer wieder in die Hand zu nehmen und mich erneut in meine Lieblingsgeschichten zu vertiefen oder einzelne, in der Fülle beim ersten Mal untergangene Geschichten erneut zu geniessen.
Mir gefällt Schamis scheinbar mühelos gestaltete, seichte Rahmenhandlung (auch wenn dort ernste Themen mit Anklang auf seine eigene Biografie enthalten sind), die Poesie und Vielseitigkeit der Geschichten und die darin enthaltenen Botschaften von Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Toleranz und dem Segen der Meinungsfreiheit. An einer Stelle lässt er Karam sagen: «… ein guter Erzähler muss seine Traurigkeit, seinen Hass und seine Wut für sich behalten und den Zuhörerinnen und Zuhörern Liebe und Zuversicht schenken. Er muss sich von Trauer, Wut und Zorn befreien. Erst dann ist er ein weiser Erzähler.» (S. 132) Ich hatte den Eindruck, dass er da auch aus eigener Erfahrung sprechen könnte.
Ich wünsche «Wenn du erzählst, erblüht die Wüste», dass es noch viele begeisterte Leser*innen finden möge, die genauso verzaubert darin eintauchen, wie ich es getan habe.