(Inhalt vgl. Cover)
Schon im ersten Kapitel frage ich mich, wieviel familiäre Verantwortung ein junger Mensch bewerkstelligen und aushalten kann. Ich bewundere die Hauptprotagonistin, mit welcher Konsequenz sie ihren durchgetakteten Alltag meistert und frage mich, wie sich diese Jahre auf ihr späteres Leben auswirken werden. In einem Alter, in welchem man*frau die Welt erforschen und erobern will, muss sie sich um ihre kleine Schwester kümmern weil die Mutter Alkoholikerin ist und sich nicht um die beiden Töchter kümmert. Tilda muss arbeiten um Geld zu verdienen und damit zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Gleichzeitig studiert sie und bereitet ihre 10jährige Schwester auf ein Leben ohne sie vor, dies als Voraussetzung damit sie selber eine angebotene Stelle weg von zu Hause annehmen kann.
Ich mag den Schreibstil der Autorin: in der Regel knapp, kein Wort zu viel und dennoch bildhaft und flüssig. Ich mochte auch ihre Erzählweise: einerseits zählt Tilda die Lebensmittel auf, welche Kundinnen und Kunden auf das Laufband bei der Kasse legen und überlegt sich, wer hinter dem Einkauf stecken könnte. In diesem Moment weiss die Leserin*der Leser, dass Tilda bei der Arbeit ist. Andererseits schreibt sie ähnlich einem Regiebuch
Ich: Ich habe dir schon ein paar Romane ausgeliehen, mit denen du anfangen kannst.
Ida: Danke.
Ich: Gerne. Vorschlag 5 (…)
Ida: Vorschlag abgelehnt.
Ich: Bitte?
Ida nickt.
Ich: Vorschlag 6 (…)
Ida: abgelehnt.
Ich bin erstaunt, wie Tilda über ihre Mutter schreibt: “statistisch gesehen hätte die Reuephase (Anmerkung: wenn sie wieder einmal zuviel getrunken hatte) schon längst beendet sein müssen”-oder “Mama ist schlimmer als ein Kleinkind (Anmerkung: weil sie wieder einmal Geschirr zu Boden fallen liess), und eigentlich sollten wir nur Plastikgeschirr daheim haben.” Hat sich Tilda damit abgefunden, dass ihre Mutter seit Jahren trinkt? Hat sie aus Schutz vor ihren eigenen Emotionen so sachlich über die Situationen gesprochen, wenn ihre Mutter wieder einmal neben der Bahn war? Oder aus Rücksicht auf ihre Schwester?
Ich habe mich gefragt, wieso Tilda genau 22 Bahnen schwimmt. Weil das ihre täglichen Momente der Freiheit sind? Und ich möchte unbedingt wissen, wie es Tilda in Berlin und Ida zurück bei ihrer Mutter geht. Ich werde auf alle Fälle das zweite Buch der Autorin lesen. “Windstärke 17” erscheint im Mai 2024.
“Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigte mich und machte mich unverwundbar.”