+ Das Zitat
“Die ummauerte Stadt existiert, kein Zweifel. Sagen will ich nur, dass es keinen bestimmten Weg dorthin gibt. Denn der Weg hinter die Mauer ist für jeden anders.”
+ Die Thematik
Der namenlose Protagonist lernt seine grosse Liebe schon mit 17 kennen. Beide erkennen, dass sie füreinander bestimmt sind, aber die Liebe endet als die 16-jährige Verehrte spurlos verschwindet. War sie nur ein Schatten, eine Einbildung? Eine Utopie? War sie real und falls ja, wieso ist sie verschwunden?
Der Protagonist kann das Mädchen nicht vergessen, lebt sein Leben routiniert, aber eher trist und freudlos weiter. Eines Tages betritt er aber die Stadt mit der ungewissen Mauer. Eine kreative Schöpfung von ihm und seiner verschwundenen Freundin. In der Stadt gibt es keine Zeit, bzw. präziser ausgedrückt: Sie spielt dort keine Rolle… Wer aber die Stadt betreten kann (vollständig umgeben von der perfekten Mauer), der muss seinen Schatten zurücklassen.
Was bedeutet das für das Individuum? Was beinhaltet das Leben in der Stadt, wo Zeit keine Rolle spielt, wo ausser Vögeln nur Einhörner die Fauna ausmachen und sich die Tage endlos wiederholen? Wo die Leute zufrieden scheinen, aber nichts Aussergewöhnliches passiert, alles einer Routine folgt? Was symbolisiert der Schatten, was ist real und wofür steht die Stadt?
+ Zum Mitnehmen
Habt ihr euch heute schon mal nach eurem Schatten umgedreht? Ist er noch da?
+ Kritik
Unzählige Jahre hab ich Murakami gemieden. Magischer Realismus, postmodernes Erzählen? Ist nicht meins. Aber irgendwann musste ich über meinen Schatten springen (wie passend) und das hab ich getan. Und WOW! Ich bin ab sofort ein Murakamist! 🤩
Ehrlich gesagt: Ich könnte jetzt 10 Rezensionen schreiben, und jede wäre andere. Murakami zusammenzufassen, meinen Eindrücken gerecht zu werden: Praktisch unmöglich.
Murakamis Schreiben ist eine Art postmoderne Meditation. Wunderschöne Sprachbilder, zig Wiederholungen (die keineswegs stören) und ein grosser Sog machen dieses Werk aus.
Murakamis Sprachgewalt und Bilder lassen tief in der Seele etwas anklingen, bringen im eigenen Hirn, in der eigenen Fantasie Saiten zum Schwingen.
Immer und immer wieder habe ich mich einfach fallenlassen können, geborgen, ja verstanden gefühlt. Als ginge es hier um MICH, um jede(n) von uns.
Murakamis neuer Roman ist eine Meditation über die Bedeutung von Zeit, Liebe, Magie, Träume, Selbstfindung, Schatten und Dunkles. Die Seelenkartografie ist atemberaubend, die Bilder magisch.
Die Stadt als Fluchtort für ein anderes, spirituelles Ich? Die sie umgebende Mauer als Bewusstsein? Der Schatten als dunkle Seite? Vieles bleibt offen, vieles kann unterschiedlich interpretiert werden, entzieht sich der Eindeutigkeit. Dieseits, Jenseits, Transformation und Irritation in Zeit und Raum. Fantastisch.
Einzige kleine Kritikpunkte: Die Frauenfiguren sind immer ziemlich eintönig, platt, etwas naiv, schlank und hübsch. Wenn das Buch Schwächen hat, dann ausgerechnet in der (konreten) Beschreibung der Liebesbeziehungen. Zum Glück sind diese aber nicht so zentral für das Buch (auch wenn sie Ankerpunkte bilden).
Zentral ist viel eher das Individuum und sein Umgang mit Zeit, Verlust, Realität, Traum, Gegenwart und Vergangenheit…