Das Leben eines anderen - eine raffiniert aufgezogene Geschichte um einen Mann, der die Identität eines anderen angenommen hat. Doch zuerst zum Anfang - alles fliegt auf, ein Jahr nachdem Ries zweiter Ehemann und Vater der gemeinsamen Tochter Hana, Tanaguchi Daisuke, nach dreieinhalb Jahren gestorben ist und sie herausfinden muss, dass ihr Mann ein anderer war und er Namen und Geschichte eines anderen Mannes übernommen hatte. Sie will herausfinden, wer ihr Mann wirklich war. Sie engagiert den Anwalt (Kido), der sie schon bei der Scheidung von ihrem ersten Mann und Vater ihres Sohnes Yuto, unterstützt hat.
Die Recherche gestaltet sich schwierig, aufwändig und langwierig - aber wie spannend! Kido stösst darauf, dass es richtiggehende “Identitätsbroker” gibt, welche für Geld die Identitäten von Menschen tauschen. Beide Parteien wissen Bescheid und es fliesst Geld. Kido findet den Mann, der Daisuke seine neue Identität vermittelt hat. Kido sucht weiter nach dem Mann, der er wirklich war, seinem Namen und seiner Vorgeschichte. Dabei entwickelt er auch eine Faszination, eine schiere Besessenheit dafür. Macht sich zu seinem eigenen Leben, seiner Ehe und seinem Vatersein Gedanken. Die Menschen, denen er auf der Spur zum hinter Daisuke stehenden Verstorbenen, begegnet, üben einen grossen Einfluss auf ihn aus, erzählen sie doch von der Geschichte eines Menschen, dessen Lebensumstände nachvollziehbar zur Flucht motivieren. Immer wieder im Hintergrund schwingt auch die Familiengeschichte von Kido nach - er ist japanischer Staatsbürger, aber mit koreanischen Wurzeln. Es war mir bis anhin nicht bewusst, wie sehr dieses Verhältnis belastet ist.
Auch der Abschnitt, als Kido ein Buch, das seinen Sohn Sota begeistert, liest - Ovids Metamorphosen - hat mich fasziniert. Ich kannte keine Hintergründe zur Geschichte von Narziss.
Es ist ein faszinierendes Buch, spannend wie ein Krimi - ohne Gewalt. Dabei hat es viel Tiefe. Die Suche nach Identität, die Flucht vor der eigenen Identität auf eine mir ganz neue Art dargestellt, was mir einen weiteren Zugang zum Thema geöffnet hat und definitiv horizonterweiternd ist für mich. Dass die Geschichte, die man mit sich trägt, zu einem guten Teil gegeben und nicht aus eigenem Antrieb so gekommen ist, eine daraus folgende Ausgrenzung, unerträglich sein kann.
Diverse Dokumente wiesen den Verstorbenen als “Tanigusci Daisuke” aus, und auch ein seiner Vergangenheit … schien es keine Widersprüche zu geben. Das Gesicht des Mannes war allerdings nicht mit dem wirklichen Taniguchi Daisuke identisch, denn dessen älterer Bruder hatte, als er anlässlich des ersten Todestags bei der Witwe zu Besuch war und das Foto des Verstorbenen sah, darauf bestanden, dass dies nicht sein Bruder sei.
Yuto, der Sohn von Rie (sie will den Namen ändern lassen):“Bestimmt hast du deine gründe, Mama, aber wenn ich nicht weiter Taniguchi heisse … dann ist Papa nicht mehr mein Vater, habe ich das Gefühl. Dann bin ich nur noch der Sohn meines vorigen Vaters … und mein späterer Vater wäre bloss dein zweiter Mann gewesen. Nur Hana wäre dann eben das Kind deines zweiten Mannes und unsere Väter wären nicht dieselben …” Die Trägnen kullerten auf seine Knie.
Es gab noch eine weitere Angst, die zu seiner (Kidos) Existenzangst hinzukam. Sie hatte mit der durch das Erdbeben wiederauflebenden Erinnerung an das Massaker an den Koreanern während des Grossen Kanto-Bebens im Jahr 1923 zu tun, vor allem aber mit dem Erstarken der Ultrarechten und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit.
Es schien mehrere Versionen des Narziss-Mythos zu geben. … Nach Ovid war Narziss der Sohn des Flussgottes Cephisos und der bläulichen Mymphe Liriope. Cephisos hatte die Nymphe in der gekrümmten Wallung des Flusses eingeengt und in den bergenden Wogen" übte er Gewat über sie. Kido erschrak, als er zum ersten Mal von dem Geheimnis der Geburt von Narziss erfuhr, und er ahnte, dass der Grund, warum dieser sich so lange im Wasser betrachtet hatte, nicht nur der Selbstliebe geschuldet war.