Wie sehr, klärt sich erst gegen das Ende des Buches. Bis dahin hat mich die Bedeutung immer auf Nadeln gehalten.
Inhalt
Kate, die kleine Tochter von Stephen (Kinderbuchautor und Experte für Kindererziehung) und Julie verschwindet spurlos, als ihr Vater beim Einkaufen einen Moment den Blick von ihr abwendet. Es ist einer der furchtbarsten Albträume von Eltern - unvorstellbar die Verzweiflung und der Schmerz.
Stephen sucht zwar überall nach seiner Tochter, meint manchmal auch, sie zu sehen, verfällt aber auch in bedeutungsloses Tun - eine Katatonie, wie er es selbst nennt. Julie ebenfalls.
Stephen und Julie kommen nicht miteinander mit dem Verlust klar, trennen sich, auch wenn sie sich zwischenzeitlich hin und wieder nahe kommen, zusammen essen, zärtlich sind miteinander und sogar miteinander schlafen. Aber danach ist etwas anders. Das Fehlen der Tochter - das Ereignis steht spürbar zwischen ihnen
Noch während dieser angeregten Unterhaltung wurde ihnen unbehaglich, weil sie wussten, dass sie keinen Grund hatten, zusammen zu baden. Es stand eine Unentschiedenheit im Raum, die beide nicht in Worte zu fassen wagten. Sie redeten frei drauflos, doch diese Freiheit war freudlos und ohne Fundament. Bald begannen sie zu stocken, der Redefluss versiegte. Das verlorene Kind war wieder zwischen ihnen. Die Tochter, die sie nicht hatten, wartete draussen auf sie.
Im Lauf der Geschichte finden beide einen Weg zurück aus der “Totenstarre”
Zum Buch
Das Verschwinden des eigenen Kindes - eine Tragödie, die man sich überhaupt nicht vorstellen möchte. Das steht nur scheinbar gegensätzlich zur Banalität, welche im Buch berichtet wird. Stephen’s Arbeit, den endlosen Sitzungen im Ausschuss, der Diskussion um das Lesen- und Schreibenelernen von Kindern, die Freizeitaktivitäten, die Schilderung von seiner Wohnung, die er vernachlässigt. Einerseits keine spannenden Erzählungen, im Kontext aber so surreal wie eben das Verschwinden des Kindes auch, so dass man nicht aufhören mag zu lesen. Das Kind und sein Verschwinden schweben auch immer irgendwie mit und hin und wieder taucht Kate auch wieder auf - nicht wirklich, sondern Stephen meint, sie zu sehen und geht dem Kind nach, in dem er Kate sieht.
Im Zusammensein mit den Eltern von Stephen wird die Tochter Kate und auch die Ehefrau Julie, von der Stephen getrennt lebt, nicht erwähnt. Es ist wie eine stille Abmachung. Einmal verhält sich Stephens Vater anders und bemerkt zu Stephens Arbeit beim Ausschuss: *
Nein, mein Junge, an deiner Stelle würde ich das hinschmeissen. Du vergeudest nur deine Zeit. Setz dich hin und schreib ein Buch. Wird höchste Zeit dafür. Kate kommt nicht wieder, Julie ist weg. Du kannst ebensogut neu anfangen.*
Wichtig in der Geschichte sind für Stephen auch Charles und Thelma. Charles, der sein Verleger war. Thelma, dessen Frau. Beide verändern ihr Leben radikal, Charles wird fast zu einem kleinen Jungen, der seine Kinderträume auslebt und eine Baumhütte baut. Wie ein Gegenstück zu Stephens Weg.
Eine Schlüsselstelle ist u.a. ein Gespräch zwischen Stephen und seiner Mutter, in dem auch ein Traum, den er seinen Eltern erzählt hatte, aufgegriffen wird, gibt ihm einen Einblick, wie sich seine Eltern kennengelernt hatten, wie sie zueinander fanden und wie ihre Beziehung, Liebe und Ehe begann.
Schreibstil
Auch in diesem Buch von Ian Mc Ewan hatte ich viel Freude am Schreibstil von Ian Mc Ewan. Sehr eindringlich, bewegend, ohne je gefühlsduselig, platt oder banal zu sein - ganz im Gegenteil. Mit seiner präzisen Wortwahl und der Art, wie er einen mit dem Aufbau und dem Faden in der Geschichte zu fesseln vermag, ist er für mich ein genialer Erzähler. Er ist ein ausgezeichneter Beobachter von Menschen und vermag sie klug zu zeichnen.
Nächste Woche würde sie sechs, wo immer sie war.
Seit Tagen war er drauf und dran, einen Spielzeugladen, nicht weit von seiner Wohnung aufzusuchen. Die Idee war zum Lachen. Sie parodierte sozusagen seinen Schmerz.
Ich musste sie weiterlieben, aber aufhören, mich nach ihr zu sehnen. Dafür brauchte ich Zeit.
Und jetzt, nach drei Jahren, weinten sie endlich zusammen um das verlorene, unwiederbringliche Kind.