Vielfältigen, sprachlich brillanten und zugleich informativen Lesegenuss bietet Bernardine Evaristo einmal mehr mit ihrem Roman «Mr Loverman».
Barrington «Barry» Jedidiah Walker, geboren auf Antigua, ist im Mai 2010 74 Jahre alt, seit 50 Jahren verheiratet mit seiner Gattin Carmeline, fast ebenso lang ansässig in London – und schon sein ganzes Leben lang homosexuell. Aus diversen Gründen halten er und Carmel beide an ihrer unglücklichen Ehe fest, doch möglicherweise ist das im Begriff, sich zu ändern.
Ich-Erzähler Barry ist ein Schlitzohr, ein Aufschneider, ein Charmeur und eine Ikone. Obwohl er sich einiges in seinem Leben hat zuschulden kommen lassen, fliegen ihm die Sympathien zu. Carmel erscheint aus seiner Sicht wie ein sauertöpfischer Hausdrachen – umso besser, dass Evaristo Kapitel in Barrys Erzählung einschiebt, in denen Carmel mit sich selber spricht. Dabei verflechtet sie auch die zeitlichen Ebenen. Während Barry «Heute» im Jahr 2010 (vom 01. Mai bis 27. Mai und dann mit einem Sprung in den September und einem letzten Sprung zum 01. Mai 2011) und dabei fortlaufend, wenn auch mit vielen Erinnerungsrückblicken, erzählt, werfen Carmels Kapitel Schlaglichter auf ihre Gefühlslage alle zehn Jahre ab ihrer Hochzeit 1960. Evaristo verdeutlicht die unterschiedlichen Erzählperspektiven nicht nur auf der Ebene der Personalform, sondern auch sprachlich. Wie auch schon bei «Mädchen Frau etc.» spielt sie mit der Interpunktion und lässt in Carmels Fall den Punkt auch überwiegend gleich weg. Carmels Erzählung mutet poetisch an, was auch rein optisch an den Textumbrüchen liegt, aber auch am Erzählfluss. Beiden ist gemein, dass ihr karibisches Erbe sprachlich ausgedrückt wird, wobei Barry seine Sprache ganz bewusst einsetzt. Natürlich kann er auch «Queen’s Englisch» und drückt mit seiner Wortwahl, der verkürzten Sprechweise und seinen von der Übersetzerin Tanja Handels bewusst auf Englisch belassenen Ausdrücken seine Identität aus.
Grundsätzlich muss an dieser Stelle die Arbeit von Tanja Handels hervorgehoben werden, die, wie ich finde, den Roman mit viel sprachlichem Feingefühl ins Deutsche übertragen und dabei die Nuancen, das Flair und den Charakter des Originals beibehalten hat.
Beeindruckend fand ich nicht nur die sprachliche Ebene, sondern vor allem auch die Themenvielfalt und wie viel Geschichte und aktuelle politische Betrachtungen ebenfalls in dem Roman behandelt werden. Da wäre Barrys Homosexualität, seit Jahrzehnten versteckt, die Gründe dafür und die Auswirkungen davon (auf seine Ehe, aber auch auf ihn selbst, der ebenfalls homophobe Sprüche klopft), der erlebte Rassismus, historisch wie auch gegenwärtig, vergegenwärtigt nicht nur an ihm, sondern auch an seinen Töchtern und seinem Enkel, die Kolonialgeschichte Antiguas, die Geschichte Hackneys, und natürlich die Geschichte seiner Ehe, seiner grossen Liebe und der persönlichen Befreiung – nicht nur seiner, sondern auch der von Carmel.
Was mich am meisten an Bernardine Evaristos Romanen begeistert, sind die Leichtigkeit und der Humor, mit denen sie erzählt und die ihre tiefsinnigen, anspruchsvollen Texte so locker daherkommen lassen.