Die Autorin schreibt im Nachwort: "Ich wollte - stellvertretend für unzählige andere - das Schicksal eines Heimkindes lebendig werden lassen. Vor allem wollte ich zeigen, welche Auswirkungen diese Art von “Pädagogik” bis in die nächste und übernächste Generation haben kann, und ich hoffe, dass mir das gelungen ist."
Das ist der Autorin Ellen Sandberg definitiv gelungen! Die Schilderungen der Schläge, Bestrafungen, körperlichen und sexuellen Ausbeutung, der Seelenqual verfolgten mich etliche Nächte und werden sicherlich noch lange präsent sein. Auch wenn man weiß, dass es sich hier um einen fiktiven Roman handelt, so weiß man halt doch, dass es sehr viele Skandale in und um deutsche und europäische Kinderheime gab - und dass noch lange nicht alles aufgedeckt wurde.
So schafft es die Autorin, dass man mit den “Helden” des Romans, Karin und Pelle, mitleidet, mitfiebert und mitzittert - und manche Abschnitte kaum zu lesen wagt, da es wehtut und schmerzt. Um so mehr, als es sich hier im Roman um Nonnen handelt, die die Kinder “sittlich” erziehen sollen und genau entgegengesetzt handeln.
Warum dann nur ganz knappe vier Sterne? Ich las bislang zwei Romane von der Autorin und finde, dass die Charakterisierung der Protagonisten, vor allem der Frauen, immer nach Schema F erfolgt: Es gibt die sanfte, liebe, hilfsbereite und gute Tochter/Freundin/Enkelin, es gibt die geldgierige, machtgeile, intrigante Schwester/Freundin/Verwandte.
Und ich finde, dass die Mutter, Karin, nicht hundertprozentig überzeugend gezeichnet wurde. Da fehlt einfach mehr psychologisches Hintergrundwissen, wie sich solche Traumata aufs Leben auswirken. Noch dazu ist es absolut unglaubwürdig, dass die Töchter, die um die vierzig, fünfzig Jahre alt sind, nie nachfragten, warum sie keine Verwandten haben, keine Oma haben. Nie nachfragen, warum es keine Kinderfotos gibt. Nie wissen wollen, wie die Kindheit der Mutter war. Gerade als erwachsene Frauen müssten sie erkennen, dass ihre Mutter etwas traumatisches erlebt haben muss um so kalt, abweisend und unnahbar als Erwachsene zu werden. Nein, man verfährt nach dem Muster “die ist halt so”. Schwer vorstellbar, dass keine der drei Töchter hier nicht “nachhaken” würde.
Und genauso nervig sind die ewigen Betrachtungen von Karin, was für einen liebevollen, rücksichtsvollen, unterstützenden, tollen Ehemann sie hatte. Das ist wichtig und muss erwähnt werden, aber nicht so oft und so schmalzig. Es wird wiederholt und wiederholt und wiederholt. Das ist oft sehr, sehr knapp an der Grenze zum Groschenroman.
Normalerweise hätte ich aufgrund dieser obengenannten Punkte nur drei Sterne vergeben. Der Lektor hätte hier noch eingreifen müssen.
Da aber der Roman ein absolut wichtiges, jahrzehntelang totgeschwiegenes Thema behandelt, das so verstörend, unglaublich und erschütternd ist, gibt es von mir großzügig aufgerundet vier Sterne und eine Leseempfehlung.