Wow, da laufe ich doch von der Uni zum HB Zürich und was lacht mich in einer Ex-Telefonzelle an, die zur öffentlichen Bibliothek mutierte? Der Medicus, das Schmachtfetzen von 1986, den ich bisher nie gelesen habe, dafür aber seine Fortsetzung (“die Nachfahren des Medicus”). Das Original war lange auch vergriffen.
Spürbare Geschichte auf 600 Seiten, Fakten, die ich zwar oberflächlich kannte (Heilkundige aus dem Orient, wo die ganze Medizin begann), aber nicht so detailliert. Fand es superspannend, auch wenn das Mittelalter nicht spürbar war. Ok, es drehte sich ja um Rob, der vom Zimmermannssohn zum Bader-Lehrling wurde und früh merkte, dass das seine Berufung wird: zu heilen, zu helfen. Mir war bekannt, dass die Medizin mit den Badern, den Praktikern, begann, die mehr oder weniger Scharlatane waren und billigen Fusel als Allheilmittel bei ihren Demonstrationen und Touren abgaben damals. Manchmal half es, oft nicht, aber für handfeste Wehwehchen (Knochenbrüche etc.) hatten die Bader ein Händchen. Die Medici (Medicusse?) waren aus besserem Haus, hatten eine gewisse Bildung, waren also die Akademiker, die an irgendeiner Universität studiert hatten, aber dennoch eher begrenztes praktisches Wissen um den menschlichen Körper hatten. Die richtigen Medicusses, wie Rob Cole zu einem wurde im Roman, die hatten in (maurischen) Spanien oder im Orient studiert, vorausgesetzt, sie waren Juden; die Christen mussten sich nur mit einem Bruchteil an Wissen zufrieden geben. Unser Held Rob also lernt einen französischen Juden, der als Medicus den grauen Star eines Patienten behandelte, kennen und ist beeindruckt von dessen Können. Das bringt ihn auf die Idee, sich nach Persien aufzumachen, um dort als jüdischer Engländer zu studieren. Schafft er auch, nennt sich fortan Jesse ben Benjamin (nach dem ihn beeindruckten jüdischen Medicus) und bewährt sich als falscher Jude im Medizinstudium - in Arabisch. Wird dann der Protegé des Professors Abu Sin und erlebt den Orient hautnah. Ein glücklicher Zufall führt ihn zu seiner “Jugendliebe” zurück, die auf der Durchreise ist mit ihrem Vater, einem Schafhändler, der stirbt. Rob heiratet sie proforma jüdisch, um nicht aufzufliegen; ein Sohn wird geboren, dann noch ein zweiter. Rob wird zum Oberarzt befördert, dann zum Militärarzt im Heer des Schahs und schliesslich selbst Professor an der Uni. Er erlebt Kriege und Feste, Bräuche, Sprachen und Kulturen. Alles in allem ein farbenfroher, detailreicher Roman, wo man froh war, als er endlich nach England zurückschifft und sich seiner falschen Identität entledigt, die ihn zum Medicus oder “hakim”, wie Arzt auf Arabisch heisst, befähigte. Der Schluss, wo ein hinterhältiger Kaufmann in London ihm nach dem Leben trachtet, ist irgendwie konstruiert, aber akzeptabel. Seine Flucht nach Schottland - seine schottische Frau Mary mit den Kindern ist sicherheitshalber schon dort - ein Indiz dafür, wo künftige Ärzte ihr Handwerk lernen werden. Ein etwas schwacher Abgang, aber der Inhalt sehr interessant, vor allem, weil der Roman in 5 von seinen 7 Kapiteln im Orient spielt mit Araberpferden, Kamelen, Dromedaren, Maultieren, Eseln, Ziegen, Elefanten, Gewürzmärkten, Sanddünen, Oasen, Palästen, Harems, Eunuchen. Und natürlich Rivalitäten der Landesfürsten Schahs, Mullahs, Wesiren. Man fühlt sich zeitweise als Trittbrettfahrer bei den Schlachten, ob in Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran oder Indien. Und meint, 1000 Jahre später, sei Persien wieder in jenes dunkle Zeitalter zurückgefallen, wo die Story spielt: im Jahre 1020 oder so.
Dafür hat der Autor 7 Jahre gebraucht, im Verhältnis zu anderen Büchern eigentlich bescheiden wenig. Man spürt, dass er jüdische Wurzeln hat, ansonsten würde er der jüdischen Kultur und Tradition nicht so viel Beachtung beimessen. Er hat sich voll auf die Medizingeschichte - die ich ja kannte - fokussiert, weswegen das Mittelalter etwas unterging. Aber egal. Der Leser gewann dadurch den Eindruck, wo die Medizin(wissen) ihren Ursprung hatte, wie so vieles im Osten bzw. im Orient.
Das Buch wurde natürlich verfilmt - sehr schlecht, wie mir schien. Bis heute blieb mir nur, dass Rob schon in der Mitte des Films den “Blinddarm” erkannte samt entsprechender OP. War im Buch mitnichten so: der Blinddarm - im Buch “die Seitenkrankheit” - wurde fast gegen Ende der 600 Seiten teilweise gelöst bzw. analysiert. Tja, im Film dachte man, man müsse was Aktuelles, Alltägliches unterbringen. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen; ein besseres Plot hätte einen ebenbürtigen Film zum Roman hervorgebracht.