“Leinsee” ist der Debütroman von Anne Reinecke. Er ist Anfang 2018 im Diogenes Verlag erschienen und spielt einerseits in Berlin, und andererseits in der fiktiven Deutschen Kleinstadt Leinsee.
Der Roman erzählt die Geschichte von Karl, dessen Eltern August und Ada Stiegenhauer grosse Namen in der deutschen Kunstszene sind. Und ihre Geschichte ist eine grosse Liebesgeschichte. Da blieb nie viel Platz für Karl. Mit zehn Jahren steckten die Eltern ihn ins Internat. Sie waren davon überzeugt, dass es wichtig für ein Kind ist, seinen eigenen Weg zu gehen. Inzwischen ist Karl Anfang 30 und selbst Künstler. Er lebt in Berlin, steht gerade am Beginn einer eigenen, vielversprechenden Kariere und die Beziehung zu seiner Freundin Mara läuft gut. Bis Karl die schreckliche Nachricht erhält, dass seine Mutter an einem Hirntumor leidet und operiert werden muss, und sein Vater sich deswegen das Leben genommen hat, da er ohne seine grosse Liebe nicht weiterleben wollte. Nun muss Karl also zurück nach Leinsee. Zurück an den Ort seiner Kindheit, den Ort an dem seine Eltern ihre Kunst und Passion ausgelebt haben - die meiste Zeit ohne ihn. Wie durch ein Wunder überlebt seine Mutter die Operation, kann sich jedoch an ihren Sohn nicht erinnern und sieht in ihm nur ihren geliebten Ehemann. In Karl wallen die widersprüchlichsten Gefühle durcheinander und er verschanzt sich immer mehr in seinem Elternhaus in Leinsee, lässt niemanden an sich heran, weder seinen Agenten noch seine Freundin. Bis eines Tages ein kleines Mädchen in seinem Garten auftaucht. Es sitzt in einem seiner Bäume und beobachtet ihn. Das Mädchen heisst Tanja, ist acht Jahre alt und die Einzige, die Karl aus seinem Schneckenhaus locken kann und zu der er Stück für Stück eine Beziehung aufbaut.
Anne Reineckes Roman ist eine Geschichte voller Gefühl und hat mich sehr bewegt. Es geht um Themen wie Familie, Verlust, Vergebung, darum wie man seinen Platz in dieser Welt findet und natürlich um die Liebe. Karl muss sich nach dem Schicksalsschlag um seine Eltern nochmals ganz neu mit seiner eigenen Geschichte auseinandersetzen. Hat er sich zuvor ein gut funktionierendes Leben in Berlin eingerichtet, hinterfragt er nun alles – seine Beziehungen, seine Kunst, sein ganzes Leben. Die Autorin schafft es, dem Leser diesen Findungsprozess von Karl authentisch zu vermitteln. Der Schreibstil ist einfach und leicht, und zudem fesselnd und unglaublich poetisch. Man sieht die Welt aus Karls Perspektive und leidet oder freut sich mit ihm.
Ein kleines Detail des Buchs hat mir besonders gut gefallen, und zwar die Kapitelüberschriften. Es handelt sich jeweils um eine spezielle Farbe wie Taubenblau, Zitronengelb oder Metallic Gold. Und jede Farbe hat eine Bedeutung im jeweiligen Kapitel. Diese allein sind schon kleine Kunstwerke, und wenn es um das Thema Kunst geht, weiss die Autorin, wovon sie schreibt. Sie hat selbst Kunstgeschichte und Literatur studiert und lässt dieses Wissen in die Geschichte einfliessen. Anne Reineckes Buch über den Künstler und das Mädchen im Baum ist voller Gefühl und in einer sehr leichten und doch eindringlichen Sprache geschrieben. Eine Geschichte die selbst ein Stück Kunst ist.
Der Roman ist für Personen geeignet, die sich gerne etwas Zeit für eine Geschichte nehmen, um sich auch an deren leisen Tönen zu erfreuen.