Ist ein Mensch, der unzählige Talente hat, als exzellenter Klavierspieler schliesslich in schummrigen Hotelbars auftritt, als überdurchschnittlicher Tennisspieler als Tennislehrer endet und als begnadeter Schriftsteller als Gelegenheitsdichter (Epithalamion) mit Grusskarten ein paar Tantiemen verdient, ein Versager?
Oder kompensieren seine aufopferungsvoll ausgefüllte Vaterrolle und sein späteres Leben als verständnisvoller Grossvater diesen gesellschaftlichen Makel?
Kann er damit rückblickend sein Leben als erfüllt zu betrachten?
Macht ihn die Tatsache, dass er sowohl die Mutter seines Sohnes als auch die Klavierlehrerin zur Rede stellt, schliesslich doch zum Kerl?
Muss Erfolg als Künstler auf Verzicht und selbstkasteiender Entsagung gründen?
Was ist Schuld und welche Konsequenz hat diese (übrigens ein Schlüsselthema bei Mc Ewan) für Täter und Opfer?
Kann ein Werk, das die Weltgeschichte von 1959 bis 2011 schildert, gelingen, oder ist es von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Mit solchen Fragen wird der Leser auf den 483 Seiten der englischen Ausgabe konfrontiert.
Mc Ewan gelingt es familiäre «Erbschaften» und die Einflüsse der Weltpolitik mit dem Schicksal des Helden Robert Baines zu verknüpfen.
Und dieses Schicksal spielt Roland übel mit:
Da sind die Jahre voller aufgezwungener Selbstdisziplin im Internat, dann die dem Buch den Titel gebenden und sein Leben aus der Bahn werfenden Klavierlektionen und schliesslich die Tatsache, dass er allein mit einem 7-monatigen Sohn dasteht.
Da ist seine zerbrochene Familie, die düstere Geheimnisse verbirgt.
Er lebt weitgehend ohne Freund, ohne Frau, ohne festen Job.
Er wird Opfer einer obsessiven sexuellen Bekanntschaft.
Es gibt unzählige literarische Verweise im Roman, allen voran «L’éducation sentimentale» von Flaubert. Und, es ist sicher nicht allzu weit hergeholt, Lessons als eine Art «umgekehrte Vorlage für den Plot» zu betrachten: Der junge Frédéric Moreau schmachtet nach der älteren Mme Arnaud, wird aber zeitlieben von ihr abgewiesen. Gespiegelt in Lessons sehen wir einen jungen Knaben, der mit dem Erwachen seiner Sexualität in eine «devastating» (zerstörerische) Abhängigkeit von seiner Klavierlehrerin Miriam Cornell getrieben wird: that woman rewired your brain a later lover tells him (diese Frau hat dein Hirn neu verdrahtet)
Was sind denn die Lektionen, mal abgesehen von denjenigen auf der Tastatur des Klaviers und der daraus entstehenden sexuellen Initiation?
Die Desillusion über die verpassten Chancen in der Vergangenheit.
Die Erkenntnis, dass einen jeden das Alter einholt (toller Bezug zur Piss-Szene in «Ulysses»: Age catches you: Once he had possessed Stephen’s trajectory, “higher, more sibilant”,now he had Bloom’s “longer, less irruent” und in Marlow’s Erzählung: . Age and its regrets, its vanished youth and banished expectations— just steps away. (p. 110)
Einsicht, dass man das Ruder in die Hand nehmen muss: this was how to steer a life successfully he thought. Make a choice, act. That’s the lesson. A shame not to have known the trick long ago. (p.390 when Roland asked Daphne to marry him).
Und schliesslich der versöhnliche finale Lichtblick, dass Trost und Glück im Kreis der Familie gefunden werden können.
Stilistisch besticht Mc Ewan mit seiner Sprache, und was die Struktur anbelangt, kann man unzählige Parallelen erkennen, die den Plot zusammenhalten.
Um die wichtigsten zu nennen:
Janes Frust und Desillusion über ihre gescheiterte Karriere als Schriftstellerin und die traumatische Umsetzung dieser Erkenntnis durch ihre Tochter Alissa: Sie hat brillanten Erfolg, was ihre schriftstellerische Karriere anbelangt, zahlt dafür aber einem ungeheuren moralischen Preis, denn sie muss auf ihrem eingeschlagenen Weg Ehemann und Sohn verleugnen. (Wie denkt Roland darüber? Dangerously. It was down to this- he loved her novel already and he loved her for writing it. (p.244)// How much easier it would have been if she had deserted her son and husband to write a mediocre novel. (p.243)
Nicht zuletzt die schriftstellerischen Versuche Rolands und Mc Ewans, ein epochales Werik zu schaffen.
Erstere scheitern, er verbrennt seine 40 Tagebücher.
Dem Leser bleibt das Urteil: Hat es Mc Ewan geschafft?
Meines lautet: Ja, mit einem dicken LOB.