In seinem kurzen, 145-seitigen Jugendwerk «Antwort aus der Stille» mit dem Untertitel: eine «Erzählung aus den Bergen», beschreibt Max Frisch den mühevollen Anstieg des dreissigjährigen Balz Leuthold zur persönlichen Reife. Der Titel erschien im Jahr 1937, als Frisch 26 Jahre alt war. Später lehnte der Autor das Jugendwerk ab und nahm es nicht in seine Werkausgabe auf. Die hier besprochene Ausgabe wurde 2009 im Suhrkamp Verlag als Neuausgabe mit einem Nachwort von Peter von Matt veröffentlicht.
Erstarrt in der Erkenntnis seiner existenziellen Leere, entsetzt von der Normalität seines Lebens beschliesst Balz Leuthold (nomen est omen!), sich von den kleinbürgerlichen Zwängen der Gesellschaft zu befreien.
Er, der als Leutnant, Lehrer und Verlobter genau dem Cliché des Bürgertums entspricht, fühlt sich zu Grösserem berufen. Und er weiss, dass es für ein verpfuschtes Leben keine Wiedergutmachung gibt: «…kein Zurückgreifen in vergangene Zeiten, kein Nachholen, keine Gnade; er weiss es wie noch nie, dass alles endgültig ist» (p.58)
Also bleibt ihm nur die Tat, um Grösse zu zeigen; die Wette lautet: alles oder nichts. Um seinen Plan durchzuführen, begibt er sich in die Natur, weg von den Menschen, und strebt nach dem bisher Unerreichten, dem Nordgrat (zeitliche Übereinstimmung mit der Besteigung der Eigernordwand).
Diese Herausforderung will er meistern. Dazu geht der Dreissigjährige in eine Hütte, die er dreizehn Jahre zuvor mit seinem Bruder schon bewandert hatte.
Wie stets bei Frisch pfuscht dem Protagonisten das Schicksal in seine Planung: erst beobachtet ihn eine junge, 28-jährige Dänin, wie er den Bergbach staut, was ihn beschämt. Am nächsten Morgen verschläft er, wohl ihretwegen, den geplanten Aufstieg. Die beiden nähern sich einander an und tauschen beim Billard erste Gedanken aus.
Aber das Leben ist kein Spiel: «Und da geschieht es denn, dass er sehr grob wird und sagt, er könne nicht spielen, wenn Leute herumstünden und zugafften!» (p.53)
Balz kann nicht aus der Haut schlüpfen, spielt sich als Macho auf und wird von der lebenslustigen Irene in Gesprächen in die Enge getrieben. Obwohl ihm die junge Frau bestens gesinnt ist, kann er sich nicht entscheiden, mit ihr zu fliehen und sich einem neuen Leben zu stellen. Er ist weder fähig, sich selbst zu akzeptieren, noch Irene bedingungslos zu lieben.
Wohl vertraut er sich ihr an, kann aber schliesslich nicht mehr zurück und erlöst auch sie nicht.
Tat oder Tod, so sein auferlegtes Dilemma: «Das Leben eines Durchschnittsmenschen, nie und nimmer: einmal muss man es wagen, die Tat oder der Tod.» (p.18).
Balz entscheidet sich für die Flucht. Damit begegnen wir einer Schlüsselthese Frisch’: der Protagonist muss es schaffen, Selbstverantwortung für sein eigenes Schicksal anzunehmen.
Schliesslich, nach einer Liebesnacht, bei Frisch angedeutet als eine Folge von Gedankenstrichen: ————– (p.118), macht er sich auf den Weg in seine Metamorphose und stellt sich der Herausforderung der Stille.
Nach drei Tagen kehrt er zurück, nicht als Triumphator, aber im Besitz des Sinns des Lebens.
Er hat in der Stille gelernt*, «diese namenlose Stille, die vielleicht Gott oder das Nichts ist»* (p. 36), wie dankbar er sein kann, überhaupt leben zu dürfen.» und am Schluss: «Aber es muss schon einen grossen Sinn haben, was dieser Stille standhielt.» (p.143)
Peter von Matt ordnet in einem 24-seitigen Nachwort die Qualitäten dieser Erzählung ein. Er verweist auf die autobiographischen Elemente und beschreibt die zeitlich begrenzte, erfüllte Liebe zwischen Balz und Irene als «Liebe ohne Schuld» (p. 164) und die Besteigung der Nordwand als ein «Surrogat für die Suche nach dem Lebenssinn».
Die Frauenrolle ist eigentlich eine Synthese zweier Frauen, Leutholds Verlobte Barbara und die zufällig in der Hütte anwesende Irene, stellvertretend für Normen und Leben. Balz wählt das Leben, ist sich aber wohl kaum bewusst, «dass sie (Irene) eine heimliche Rolle spielt, dass sie männliche Entschlüsse bestimmt durch zwei Stockwerke hindurch» (p.33) und: «Noch immer ahnt sie nicht, dass eben sie es ist, die ihn in diese Wand getrieben hat» (p.34).
Hier wird ironischerweise die Frau, die ihn zum Leben verführt, auch eine Art Todesengel. Der Leser fragt sich auch, ob Balz hier wiederum ein doppeltes Spiel treibt: «Dass sie der erste Mensch ist, dem er es anvertraut, und vielleicht darum anvertraut, damit es für ihn kein Zurück mehr gibt.» (p. 40)
Ich empfehle dieses Buch mit seiner Vielzahl von typischen Frisch-Facetten. Für mich ist es zum Einstieg geworden ins Werk eines bisher von mir unbekannten Schriftstellers.