Kya wird als Kind von allen Menschen verlassen, die ihr etwas bedeuten. Ihre Mutter, ihre Geschwister, am Ende auch ihr Vater. Obwohl dieser gewalttätig war und der eigentliche Grund dafür ist, dass die Familie geht, ist er eine Weile der einzige Ankerpunkt in ihrem Leben. Nachdem auch er verschwunden ist, isoliert sich Kya komplett, meidet die Bewohner der nahen Kleinstadt Barkley Cove. Für die Kleinstädter ist Kya ein Sonderling. Sie verspotten sie als Marschmädchen. Und obwohl sich Kya so sehr von allen Menschen zurückzieht, gerät sie in eine Liebesgeschichte, die ihr am Ende gefährlich wird.
Delia Owens Roman hat es auf alle Bestsellerlisten geschafft, ist von vielen zum Lieblingsbuch gekürt und erst kürzlich verfilmt worden. Daher bin ich sehr erwartungsvoll in die Lektüre gestartet.
Owens erzählt Kyas Geschichte auf mehreren Zeitebenen. Man lernt in einem Kapitel Kyas als Kind kennen, dann springt die Geschichte in die aktuelle Zeit und mitten in die Ermittlungen rund um einen Todesfall, der Barkley Cove erschüttert und Kya eine Mordanklage bringt. Die Natur spielt dabei in allen Zeitebenen eine wichtige Rolle. Owen schafft es, das Marschland vor dem Auge der Leserinnen und Leser mit all seinen Tieren und Pflanzen lebendig werden zu lassen. Man merkt in den Beschreibungen die Zoologin.
Auch wenn Owens in einem sehr flüssigen, gut zu lesenden Stil schreibt, habe ich einige Zeit gebraucht, in das Buch einzutauchen. Vielleicht lag es an den unterschiedlichen Zeiteben, vielleicht an den manchmal sehr ausschweifenden Naturbeschreibungen, genau kann ich es selbst nicht sagen. Neben Kya als Hauptprotagonistin schafft es Owens, selbst die Nebencharaktere fein zu zeichnen und schafft sympathische und gewollt unsympathische Ankerpunkte der Geschichte.
In jedem Fall lässt sich der Roman nicht sehr einfach klassifizieren. Es ist die Coming-of-Age Geschichte eines Mädchens, welches es schafft, in der Wildnis ganz alleine zu überleben, durch ihre Intelligenz nicht nur Bildung erlangt, sondern am Ende zu einer respektierten Expertin für die Marsch und deren Besonderheiten wird. Auf der anderen Seite ist es ein Kriminalroman, der mit vielen Klischees spielt und Leserinnen und Leser in den Bann zieht. Dann kommt der Aspekt der Liebesgeschichte zwischen Tate und Kya dazu, die sich wie ein roter Faden durch das gesamten Buch zieht. Noch dazu ist es im Grunde eine Sozialstudie, in der es um viele noch heute aktuelle Themen geht. Mobbing, Ausgrenzung, Einsamkeit, Vorurteile, Sehnsucht nach Menschen & Nähe, Liebe, Enttäuschungen und Verlustängste.
Es ist eine spannende Mischung, bringt viele Themen an die Oberfläche und regt beim Lesen zum Nachdenken an, auch über eigene Verhaltensweisen und Denkmuster.
Doch bei allen nachhallenden Aspekten, gibt es neben der Tatsache, dass ich länger gebraucht habe, in das Buch zu finden, haben mich doch einige Punkte gestört. So lässt sich die Autorin viel Zeit, die Geschichte zu entwickeln und erzählt dann das Ende in einem rasenden Tempo, zum anderen war dieses Ende für mich nicht wirklich überzeugend und glaubwürdig. Die Mordgeschichte bringt zunächst Spannung in den Roman, wird jedoch im Fortgang immer unglaubwürdiger, nicht zuletzt das Ereignis, welches die Tat ausgelöst haben soll, wirkt blass und wenig überzeugend.
Das Buch ist eine Hommage an die Natur und gleichzeitig ein Aufruf, Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu beurteilen oder sich auf das Gerede anderer zu verlassen. Die Naturschilderungen sind faszinierend und die Nebenfiguren gehen teilweise sehr ans Herz. So hat das Buch sicher etwas besonderes und doch konnte es mich durch die oben angeführten Schwächen nicht ganz überzeugen.
Für mich 3,5 von 5 Sternen