Ana Iris Simón erzählt ihre Geschichte. Sie erzählt von ihrem Aufwachsen in einem spanischen Dorf in der Mancha, von ihren Eltern, ihren Grosseltern, den Veränderungen, die in ihrem Land vonstattengingen.
Die Lesenden werden mitten in ihr Leben geworfen, mitten hinein in ihre lebendige und personenreiche Familie. Sowohl ihre Erzählungen als auch ihr Schreibstil sind sprunghaft und etwas chaotisch. So brauchte ich einige Seiten, bis ich mich in der Geschichte zurechtgefunden habe.
Je weiter fortgeschritten die Lektüre, desto tiefgründiger, politischer und philosophischer wird sie. Ana Iris Simón schreibt von Heimat und Sehnsucht, von Jahrmärkten, gesellschaftlichem Wandel, von Politik und der spanischen Mancha. Dabei beschreibt sie auf berührende Weise die Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern, so lebendig, dass ich die Personen richtig vor mir sah.
«Mitten im Sommer» ist ein aussergewöhnliches Buch. Es gibt keinen roten Faden – Ana Iris erzählt episodenhaft von prägenden Erlebnissen ihres Lebens. Aufbau, Sprache und Themen erinnern eher an aneinandergereihte, teils gesellschaftskritische Essays. Aber diese Essays sind wunderschön und stark geschrieben. Es findet ein ständiges Wechselspiel zwischen Kindlichem und Erwachsenem, Verspieltem und Ernstem statt. Die Erzählstimme ist mal wehmütig, mal provokativ, dann wieder humorvoll oder berührend. Simóns Schreibstil ist einzigartig.
«Die ersten Tage, die Javi bei uns daheim war, verbrachte ich wie die ersten Wochen, als ich Paris kennenlernte, im Zweifel darüber, dass es ihn gab. Ich hatte neun Monate auf ihn gewartet, und vor diesen neun Monaten neun Jahre, in denen es sogar einen Bruder gegeben hatte, der nicht zur Welt gekommen war, sodass ich mich, als Javi dann schliesslich kam, versichern musste, dass es ihn gab, dass er da war, dass er nicht nur war, sondern es auch eine Beziehung gab zur Ana Mari und zu meinem Vater und damit zu mir. Dass wir Geschwister waren, eins wie das andere, nur mit zehn Jahren dazwischen. Dass nur die Zeit uns trennte, und jetzt nicht einmal mehr die, denn wir bewohnten ja dieselbe.» (S.190)
Am besten geht man ohne spezifische Erwartungen und mit einer Portion Offenheit an «Mitten im Sommer» heran (den spanischen Titel “Feria” fände ich übrigens passender). Das Buch ist anders, als ich erwartet hätte, aber es konnte mich begeistern.