Verstand und Gefühl erschien 1811 in einer Zeit enormer politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen. Die Napoleonischen Kriege hatten beinahe ganz Europa in Brand gesetzt, Großbritannien entwickelte sich im Zuge der industriellen Revolution und imperialen Ausdehnung zur „Werkstatt der Welt“, in den Städten wuchsen das Elend und der Unmut der Proletarier. Sie und die Massen verarmter Bauern hatten nur wenig Verständnis für die Ausschweifungen und die Verschwendungssucht des Prinzen von Wales und späteren Königs George IV., der in der „Regency-Zeit“ von 1811 bis 1820 anstelle seines wahnsinnig gewordenen Vaters George III. als Prinzregent herrschte.
Dieser ganze zeitgeschichtliche Hintergrund schlug sich in Jane Austens Werk jedoch nicht nieder; sie reduzierte ihre Romane auf die wesentlich heilere Welt des Landadels, Klerus und Handelsbürgertums in dörflichen Gemeinschaften. Innerhalb dieses engen Rahmens griff sie mit Verstand und Gefühl die wichtigste moralphilosophische Debatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf: die Frage, ob der Mensch sich eher von seiner Vernunft und kritischen Urteilsfähigkeit oder von seinem angeborenen Gefühl leiten lassen solle. Wichtige Wortführer dieser Debatte waren der Politiker, Philosoph und Schriftsteller Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, sowie der Schriftsteller und Kritiker Samuel Johnson.
In „Verstand und Gefühl“ kommen Merkmale des Realismus im Konflikt zwischen persönlichen Interessen und gesellschaftlichen Normen immer wieder deutlich zum Ausdruck. Das Individuum an sich steht dabei im Mittelpunkt. Auch der Umgang mit dem Thema Liebe im 19. Jahrhunderts wird von allen Seiten beleuchtet und die Abhängigkeit der Frau zum Mann oder zu männlichen Nachkommen dargestellt. So ist es nicht verwunderlich, dass die beiden Hauptfiguren Elinor und Marianne von der Autorin charakterlich sehr unterschiedlich entworfen wurden. Die eher ruhigere und rationale nüchtern betrachtende Elinor ist der blosse Gegensatz zu ihrer lebendigen und temperamentvollen Schwester Marianne. Trotzdem werden die meisten Passagen im Buch von der eher nüchternen Elinor geschildert. Der Leser erfährt die Welt aus ihrer Erzählperspektive und somit auch den Wandel und die Handlung durch ihre Augen, Ansichten und die Gespräche an denen sie teilnimmt.
Beide Schwestern leben ihre Vorstellungen davon völlig unterschiedlich aus: was Liebe ist und wie sie konkret aussehen soll. So steht für Marianne ein ähnliches Denken und die gleichen „Neigungen und Abneigungen“ im Vordergrund. Während Elinor eher die Ansicht vertritt, dass eine “ gegenseitigen Akzeptanz” vorhanden sein sollte. Die beiden Frauen ermöglichen dadurch dem geneigten Leser sich in die „Kinder ihrer Zeit“ hineinzudenken. Beide lassen sich in ihren Handlungen von der Etikette und damaligen Moralvorstellungen bei all ihren Schritten leiten. Trotzdem leiden beide Charaktere auf ihre Weise unter den auferlegten gesellschaftlichen Zwängen. Auch das Schicksal sieht schon zu Beginn des Buches, nicht als besonders rosig aus. So steht die eben frisch erwachte Liebe zwischen Edward und Elinor von Anfang an unter keinem günstigen Stern. Da er aus „guten Verhältnissen kommt“ . Dagegen Elinor von ihrem eigenen Stiefbruder und dessen Frau um ein Erbe von 1000 Pfund betrogen wurde, und in einem Cottage auf dem Land ziehen muss, dass sie und ihrer Familie nur der Mildtätigkeit eines Cousins ihrer Mutter verdankt. Aber keine Angst die beiden Schwestern fahren nach zahllosen Irrungen und Wirrungen am Ende beide in den sicheren Hafen der Ehe ein. Auf gar keinen Fall durften in dieser Geschichte von Jane Austen nicht die garstige Schwiegermutter, die eifrige Kupplerin und der charmante Nichtsnutz fehlen. Auch sie beleben die dargebotene Geschichte und treiben die Handlung voran. Unter dieser seichten Oberfläche, von Bällen,Ausflügen in die Natur und immer wiederkehrenden Gesprächen versteckt die Autorin jedoch eine bitter-ironische Abrechnung mit den Zwängen, denen die Frauen der gehobenen englischen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgesetzt waren: Sie hatten nur selten eigene Einkünfte, sollten präsentabel, aber nicht zu schlau sein und verbrachten die meiste Zeit mit Gesellschaftstratsch, Heiratsanbahnungen und Handarbeiten. Jane Austen verweist ihre übermütige und unkonventionelle Heldin Marianne am Ende in die Schranken der Vernunft und Sittlichkeit, die für ihre Schwester Elinor schon immer gegolten haben – ob aus Notwendigkeit oder echter Überzeugung, bleibt letztlich offen. Das Buch selbst bietet jedem der in die Sprache des 19.Jahrhunderts und mit den Sichtweisen Selbigen vertraut ist, vergnügliche Unterhaltung oder die albtraumhafte Darstellung einer Welt, in der Frauen nichts anderes übrig blieb, als sich zu fügen und sich vorteilhaft zu verheiraten. Dies lieber Leser bleibt eigens Ihnen überlassen, in welche Art und Weise sie den Inhalt des Buches interpretieren.Ich für meinen Teil kann nur sagen ein durchaus lesenswertes Buch und zu Recht ein Klassiker.