In Kai Meyers neuem Roman reisen wir in verschiedenen Zeiten der Deutschen Geschichte hin und her. In Rückblicken erzählt die Hauptfigur Robert Steinfeld Anfang der 70er Jahre seiner Freundin Marie aus seiner Kindheit. Die Nazizeit im noch nicht geteilten Deutschland bildet das grundlegende Setting, wobei die Stadt Leipzig als die damalige Hochburg der Buchdruckerkunst und des Buchhandels im Zentrum steht. In dieser Zeit war Robert, «der Junge», ein Kind, das jahrelang in einem Raum voller Bücher gefangen gehalten wurde. Warum das so war, erfahren wir erst gegen Ende des Buches. Als Leipzig 1943 bombardiert wird und niederbrennt, rettet ein Unbekannter den Jungen und nimmt sich seiner an. Dieser Fremde besass bereits Kontakte zu Roberts ihm unbekannten Vater, einem Antiquar und Buchbinder in Leipzig. Erst im Lauf der Erzählung kommt der Junge als mittlerweile Erwachsener hinter diese Verbindung. Kai Meyer erzählt nun abwechselnd hauptsächlich aus der Perspektive von Vater und Sohn.
Vater Jakob Steinfeld wird seit der Machtergreifung der Nazis zunehmend von Mitgliedern der SA schikaniert. Einerseits wegen persönlicher Feindschaften, andererseits, weil er einen russischstämmigen Juden bei sich beschäftigt. Zeitgleich verliebt er sich in Juli, die Tochter des mächtigen Verlegers Palandt, welche ihm ein geheimnisvolles Manuskript zum Binden anvertrauen will. Als Juli plötzlich verschwindet, wird Jakob von deren Vater beauftragt, nach ihr zu suchen. Mehr als 40 Jahre später stirbt der alte Palandt, Robert Steinfeld, der inzwischen mit alten Büchern handelt, wird zusammen mit seiner Freundin Marie beauftragt, die wertvolle Bibliothek des Verstorbenen zu katalogisieren und zu verkaufen. Ohne zu wissen, mit welcher Familie er es dort wirklich zu tun hat, macht Robert sich an die Arbeit und stösst auf Spuren aus seiner Vergangenheit, die er sich nicht erklären kann. Es ist ein Kunstgriff des Autors, dass wir Lesenden immer im ein wenig im Vorteil sind, weil wir durch die rückblickenden Berichte aus Sicht seines Vaters ja bereits einiges wissen. Und doch treten stets neue Wendungen und Verwicklungen auf, mit denen auch die Lesenden nicht rechnen, so dass es bis zum Ende hochspannend bleibt.
Meine Meinung:
Ich habe oft gelesen, Kai Meyers neuer Roman «Die Bücher, der Junge und die Nacht» sei ein Phantastikroman. In meinen Augen ist er aber vor allen Dingen ein hervorragender und ungemein spannender historischer Roman mit einigen phantastischen Elementen, der mit einer Fülle von interessanten Informationen für die Lesenden aufwartet. Das Buch befasst sich in Romanform mit den neueren Forschungsergebnissen in Hinblick darauf, welche religiösen Ideen die Ideologie der Nazis beeinflusst haben. Ging man lange Zeit davon aus, dass vor allem die nordische Mythologie dafür massgeblich gewesen sei, so weiss man heute, dass vor allem auch esoterisches, okkultes, spiritistisches und theosophisches Gedankengut eine grosse Rolle spielten. Und so ist es denn auch die Ariosophie und der mit ihr verbundene Reinkarnationsgedanke, der das Schicksal gleich mehrerer Hauptfiguren in Kai Meyers neuem Roman negativ zerstörerisch und auf tragische Weise beeinflusst.
Mindestens ebenso spannend sind die Ausführungen darüber, wie sich die Bücherstadt Leipzig entwickelte, welche Rolle sie lange Zeit einnahm und wie sie im Lauf des Zweiten Weltkriegs und vor allem danach ihre Bedeutung immer mehr verlor. Eine nicht unwesentliche und nicht gerade rühmliche Rolle spielte in dieser Zeit auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, welcher sich zu einer bestimmten Zeit keineswegs hinter seine Autoren stellte, sondern auch aktiv für die Eliminierung gewisser Werke eintrat (nebenbei bemerkt: «Börsenverein und nationalistische Literatur» ist ja bis heute noch ein umstrittenes Thema). Der Ausflug des Protagonisten mit seiner Freundin in die damalige DDR lässt erahnen, wie dort nach dem Krieg ein unterdrückerisches System das andere lediglich ersetzt hat. Und die Behandlung verschwörerisch absurden und esoterischen Gedankenguts aus der Nazizeit lässt an Parallelen der jüngsten Geschichte denken.
Kai Meyer verbindet in seinem neuen Roman gekonnt die deutsche Geschichte mit der Geschichte des Buchdrucks. Es ist eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher. Bücher können Leben retten, sie sind der Anker in den ersten Lebensjahren der Hauptfigur, sie füllen seine Einsamkeit mit Leben und lassen ihn gedanklich aus seinem Gefängnis entkommen. Auf der anderen Seite ist es auch eine Warnung, denn Bücher können auch Leben zerstören. Ganz real, indem dafür getötet wird. Oder im übertragenen Sinn, indem ihre Inhalte die Gedanken der Menschen verwirren und sie auf unheilvolle Wege führen.
Schliesslich geht es in «Die Bücher, der Junge und die Nacht» aber auch darum, seinen Weg zwischen Lüge und Wahrheit zu finden, ihn zu gehen und für seine Überzeugungen einzustehen. Dabei kommen auch immer wieder poetische und berührende Szenen vor, die einen den Roman und seine Hauptfiguren noch lange nach Ende der Lektüre im Herzen behalten lassen.
Fazit:
Für mich ist «Die Bücher, der Junge und die Nacht» neben «Die Seiten der Welt» das beste und ergreifendste Buch, welches ich bisher von Kai Meyer gelesen habe. Unbedingt empfehlenswert!