Beeindruckende Chronik eines Lebens, einer Generation und der französischen Gesellschaft seit 1940.
Annie Ernaux verspürte schon immer das Bedürfnis, Bücher zu schreiben und seit den 80ern geisterte in ihrem Kopf die Idee herum, ihr Leben aufzuschreiben. Aber nicht als gewöhnliche Biografie einer Französin, einer Lehrerin, einer Ehefrau und Mutter, sondern vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der französischen Gesellschaft. Nur über die Form war sie sich lange Zeit nicht klar. Als sie Anfang des neuen Jahrtausends, nun schon über 60 Jahre alt, an Krebs erkrankt, sieht sie ihre Zeit davonlaufen und verwebt ihre über Jahrzehnte gesammelten Notizen zu einem dichten chronologischen Zeugnis der letzten fast 70 Jahre.
“Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.”
Der Schlusssatz ist das Motto dieses autofiktionalen Werkes. Ernaux’ Schilderungen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen jener Jahre sind überwiegend über längere Absätze ausformuliert, teils in einem Satz pointiert kommentiert, teils als Aufzählungen einzelner Besonder- und/oder Begebenheiten stichpunktartig festgehalten. Toll ist, wie Familienfeiern über die Jahre immer wieder als Referenzpunkt dienen. Wie haben sich die Gesprächsthemen verändert? Wer redet am meisten? Wie fühlt sich die Erzählerin inmitten ihrer Familie? Erst als Kind, dann als junge Erwachsene, als junge Ehefrau und Mutter und schliesslich als Mutter erwachsener Söhne, als Grossmutter?
Wirklich genial ist dabei, dass durch die Erzählung in der dritten Person ihre Schilderung eine Allgemeingültigkeit erhält, die dem Buch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und generationenübergreifende Relevanz verleihen.
Natürlich konzentriert sie sich vor allem auf Frankreich, doch sind viele politische und wirtschaftliche Entwicklungen weltweit bedeutsam (AIDS, Fall der Mauer, Ende der Sowjetunion, 11. September, …), sodass die Lektüre auch nicht-französische Leser*innen zum Nachdenken anregt. Ganz besonders spannend finde ich diese nationalitätenübergreifende Relevanz bei gesellschaftlichen Entwicklungen, wie dem aufkommenden Individualismus ab den späten 80ern, dem Altern, der Stellung von Frauen und ihrer Sexualität etc.
Ebenfalls begeistert hat mich die Sprache. Ernaux zeichnet auch diese Entwicklung nach, wie Wörter aus unserem Wortschatz verschwinden und neue dazukommen, welche Lieder, Bücher, Filme prägend für welche Zeit waren. Die Übersetzerin, Sonja Finck, wechselt souverän zwischen den Elementen, die sie unübersetzt stehen lässt und solchen, für die sie passende Übertragungen im Deutschen findet (dies gerade hinsichtlich des sprachlichen Wandels). Sie erhält so das französische Flair und gibt den Erinnerungen zugleich auch einen deutschen Kontext.
Es ist kein Buch, das ich in einem Rutsch weggelesen hätte, sondern für das ich mir Zeit genommen habe, auch, um die Eindrücke all dieser kompakt aufeinander folgenden Jahre zu verarbeiten. “Die Jahre” ist das erste Buch der Nobelpreisträgerin Ernaux, das ich lese, aber es wird sicherlich nicht das letzte gewesen sein.