Chinua Achebe’s Werk “Alles zerfällt” ist mir als Book Club Empfehlung im Internet begegnet. Der Titel hörte sich interessant an. Auch die Thematik hatte etwas Erfrischendes, denn ich habe noch kein Buch vom schwarzen Kontinent gelesen. Achebes “Alles zerfällt” wird heute als Grundstein der afrikanischen Literatur gehandelt. Der Roman wurde 1958 das erste Mal veröffentlicht. Chinua Achebe ist Nigerianer, sein Name wurzelt in der Sprache der im Buch beschriebenen Igbos und bedeutet übersetzt: “Gott kämpft zu meinen Gunsten”. 2002 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Viel wichtiger als das ist jedoch, dass Achebes Erzählstil sich nicht nach den gängigen, europäischen Literaturkonventionen entwickelt hat, sondern aus seiner eigenen Herkunft zehrt. Wer Achebe liest, bemerkt alsdann, dass die gegebenenfalls als distanziert empfundene Erzählkunst im Grunde alles andere als Distanz in sich birgt. Achebe’s Werk ist intensiv und kraftvoll, frei von jeglichen Plattitüden.
Die Geschichte
Wir befinden uns um 1890 im Stammesgebiet der Igbo in Nigeria. Hier wird Okonkwo geboren und wächst zu einem gefürchteten Krieger heran, dessen Antrieb zum Aufstieg zu den ranghöchsten Stammesmitgliedern darin gründet, die Schwächen seines Vaters von sich zu weisen, der sein Leben lang lieber trank und sich dem Musizieren widmete. Okonkwo verliert dadurch das Gefühl für eine gesunde Balance und entwickelt einen herrischen, scheinbar gefühlsarmen Charakter und nicht zuletzt einen übersteigerten Sinn für Männlichkeit. Er schlägt seine drei Ehefrauen, ist autoritär. Seine Gefühle versteckt Okonkwo, ist brüsk und abweisend, jähzornig. Die Angst vor Schwäche ist Okonkwo’s Lebensantrieb, gewährt ihm gepaart mit seiner fleissigen Ader aber auch die Erlangung mehrerer Ehrentitel innerhalb des Clans. Eigentlich läuft alles nach Okonkwos Willen. Sein Ziel, Ranghöchster des Stammes zu werden, rückt in greifbare Nähe. Doch dann tötet er aus Versehen einen anderen Dorfbewohner. Gemäss Sitte werden er und seine ganze Familie für sieben Jahre verbannt und müssen diese sieben Jahre im Heimatdorf seiner Mutter verbringen. Währenddessen treten Veränderungen grossen Ausmasses ein, Missionare bemächtigen sich des Landes, weisse Regierungen werden gebildet, Eingeborene bekehrt, die Kolonisation hält Einzug. Für Okonkwo, den stolzen Krieger, eröffnet sich damit der Anfang vom Ende. Alles wofür er kämpft und woran er glaubt, kollidiert mit dieser neuen Welt von fremden Werten. Anpassung ist Okonkwo fremd, Scheitern keine Option. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Meinung
Die Geschichte beinhaltet genau genommen zwei Themen: die Lebensgeschichte von Okonkwo und die Geschichte der Kolonisierung der Igbo. Letztere wird in diesem Buch aus Sicht der Igbo erzählt. Und das ist das eigentliche Highlight dieses Buches, da bis anhin ausschliesslich literarische Werke von Nichtafrikanern verfasst wurden. Achebe hat 1958 mit “Alles zerfällt” diese Lanze gebrochen. Eine völlig intakte, wenn auch uns fremde Welt, wird von aussen penetriert bzw. zerstört. Man liest und erlebt die Tragödie eines Volkes, das man bevormundet, dem man keine Wahl lässt. Als Leser erlebe ich hautnah den religiösen Fanatismus des missionierenden Christentums und schüttele dabei fortwährend den Kopf. Ich habe mich dabei auch oft fremd geschämt für diese Weissen, die sich in Nigeria aufspielen und annektieren, wie es ihnen gefällt. Achebe schreibt darüber, ohne zu werten, beschreibt lediglich die Sichtweise seiner Protagonisten, den Igbo, allen voran natürlich Okonkwos. Dieser agiert schon beinahe als Antiheld in diesem Werk, fällt es dem Leser doch schwer sich mit Okonkwo anzufreunden, aufgrund seiner offensichtlichen menschlichen Defizite. Und dennoch: ich erlebte Okonkwo als tragische Figur, für die ich bald Mitgefühl entwickelte. Er hatte schon als Kind keine Chance, musste sich selbst “erziehen”, weil der Vater früh starb und auch sonst nicht immer das beste Vorbild sein konnte aufgrund seiner Trunksucht und seiner Lethargie. Mich hat vor allem Achebes Erzählkunst beeindruckt. Was als mehr oder weniger “simpel” geschrieben daher kommt, erweist sich als komplex und intensiv, vor allem gegen Ende der Geschichte, wenn die Kolonisierung einsetzt. Was der Leser erst als relativ ruhige Erzählung empfindet, nimmt immer mehr an Fahrt auf, wird zunehmend tragisch und schmerzvoll. Sehr interessant fand ich den Ausflug in die Kultur und das Rechtssystem der Igbo, die Achebe mit “Alles zerfällt” noch einmal aufleben lässt. Das Buch ist gespickt mit Igbo-Ausdrücken, die in einer Legende am Ende des Buches aufgelistet sind und viel über den Sprachgebrauch und Sitten verraten.
Fazit
“Alles zerfällt” ist ein Stück Weltliteratur, das man sicherlich auch unter “sollte man mal gelesen haben” einordnen kann. Für mich war es ein sehr intensives, verstörendes Porträt über die Kolonisierung Afrikas (Nigeria), das vielleicht gerade aufgrund der relativ ruhigen und deskriptiven Form der Erzählkunst grossen Nachhall erzeugt. Zu Ende der Lektüre erfasst den Leser die geballte Wucht dieses Romans. Ein Werk, das dem von der Kolonialherrschaft gebeutelten Afrika eine Stimme verleiht und aufrüttelt.