Mir gefallen Roadtrip-Movies wie The Straight Story oder Pilgerreisen-Geschichten wie Ich bin dann mal weg von Hape Kerkeling. Die persönlichen Abenteuer von Menschen, die sich auf einen unbekannten Weg machen, mit dem blossen Ziel, etwas mehr über sich selbst zu erfahren, sind für mich die wahren „Abenteuergeschichten“. Quasi die Indiana Jones des Lebens. Jede Person auf Erden befindet sich auf ihrem eigenen Weg. So ist das Sprichwort „Der Weg ist das Ziel“ ein wichtiger Leitsatz für mich geworden, der je länger, desto mehr an Bedeutung gewinnt. Die Geschichte über die Pilgerreise des Harold Fry ergänzt ungemein mein Repertoire an tolle Geschichten über das eigentliche Leben. Autorin Rachel Joyce weiss, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Original-Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ ist ihr erster Roman. Die Geschichte schrieb sie, während ihr eigener Vater mit Krebs in einem Hospiz lag. Sie hoffte, dadurch das Leben ihres Vaters verlängern zu können. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.
Die Geschichte
Harold Fry ist der Hauptprotagonist in dieser Geschichte. Harold ist ein in die Jahre gekommener Mann mit einem „gelebten“ Leben. Seine Geschichte ist erfüllt von Höhen und Tiefen. Als er eines Tages erfährt, dass seine ehemalige Arbeitskollegin Queenie Hennessy mit Krebs auf dem Sterbebett liegt, möchte Harold Fry ihr einen Brief schreiben. Doch als er den Brief schliesslich einwerfen will, läuft er stattdessen einfach an dem Briefkasten vorbei. Er macht sich auf zu Fuss, um die vielen hundert Kilometer zum Hospiz zu gehen. Harold möchte Queenie retten, indem er einfach zu ihr „läuft“. Er glaubt fest an die Macht des Willens und dass er die Krebskranke mit seiner Motivation vor dem sicheren Tod retten kann. Was am Anfang der Geschichte nach einer unvorbereiteten Wanderung eines naiven, alten Mannes aussieht, entpuppt sich bald als tiefgreifende Idee mit Substanz und zur echten Mediensensation. Die Pilgerreise versetzt eine ganze Nation in Staunen, denn Harold Fry läuft und läuft und läuft, immer weiter seinem persönlichen Ziel entgegen. Im Verlaufe seiner langen Wanderung gesellen sich viele unbekannte Menschen zu ihm, um an der Reise teilzunehmen. Doch einige dieser Personen verfolgen ihre persönlichen Ziele und drohen zeitweise Harolds Unterfangen zu gefährden.
Meinung
Wer Roadtrip-Storys oder Pilgergeschichten mag, sollte das Buch ohne zu Zögern lesen. Äusserst gekonnt hat Rachel Joyce eine sagenhaft gute Geschichte, mit viel Witz, Charme und Melancholie geschrieben. Es muss auch erwähnt werden, dass dies das erste Buch der Autorin ist. Die Autorin hat es geschafft, dass ich während jeder Sekunde beim Lesen hoffte, dass Harold Fry es tatsächlich schaffen würde, seine Kollegin Queenie Hennessy zu retten. Hoffnung ist wirklich ein immens starkes Gefühl, das muss ich zugeben. Vielleicht ist es sogar mehr als ein Gefühl, eher ein Konzept. Das wurde mir durch die Geschichte noch deutlicher bewusst. Viele Menschen, die mit Harold Fry mitlaufen, outen sich schnell als nicht ganz selbstlos. Viele dieser Mitläufer tendieren in ihrem Egoismus dazu, Harolds Lebensgeschichte zu ihrer eigenen Geschichte umzuschreiben. Es sind die „Schmarotzer“, die wirklich gute Menschen aussaugen und die Umsetzung guter Ideen ausbremsen. Was man leider auch im wirklichen Leben tagtäglich erleben kann.
Ausserdem trägt Harold noch ein Geheimnis mit sich herum: „sein eigenes Leben!“, welches ihm niemand wegnehmen kann. Vor allem der letzte Abschnitt der tollen Geschichte macht klar, was Hoffnung und Irrglauben mit den Menschen bewerkstelligen kann. Menschen ohne gute soziale Bildung oder Erziehung mit starkem familiären Rückhalt schaffen es bedauerlicherweise auch im realen Leben, andere ernsthaft zu gefährden. Rachel Joyce erweckte totgeglaubte Gefühlsgeister in mir und machte mir damit klar, dass jedermann das Recht auf die eigene Lebensgeschichte hat. Die Lüftung von Frys Geheimnis versetzte mich in Demut allen älteren Personen gegenüber. Denn wir alle werden irgendwann alt, sofern man nicht einen frühen Tod erleidet. Und was bleibt, ist die eigene Geschichte, die eigenen Emotionen und Erinnerungen an ein Leben, hoffentlich voller Liebe, Freundschaft und voraussichtlich, leider auch Trauer.