In ihrem Roman Iglhaut entführt Katharina Adler Leserinnen und Leser in den Hinterhof eines Mehrfamilienhauses in einer Großstadt, die sehr an München erinnert. Wir tauchen ein in das Leben und den Alltag der Hausgemeinschaft, allesamt Durchschnittstypen ohne Prestige oder soziales Ansehen, mit wenig Geld, dafür vielen alltäglichen Sorgen. Im Mittelpunkt dieser Hausgemeinschaft steht die Iglhaut, eine Schreinerin in den 40ern, die im Hinterhaus ihre Werkstatt hat. Sie hat eine Vorliebe für Whiskey-Cocktails, alte Sozialdemokratinnen, hat Geldprobleme, liebt den Umgang mit Holz und muss sich immer wieder den großen und kleinen Tragödien ihres Lebens stellen. Auch ohne, dass sie es bewusst steuert, ist sie der Ankerpunkt des nachbarschaftlichen Miteinanders und so laufen die Geschichten irgendwie doch immer wieder bei ihr zusammen.
Mich hat von Anfang an die Sprache der Autorin begeistert, so gradlinig und bodenständig wie die Figuren in ihrem Roman und doch erschafft sie damit vor dem inneren Auge der Leserinnen und Leser die Bilder der Geschichte. Diese haben sich dieses Mal direkt bei mir ab dem ersten Satz eingestellt, wenn Adler schreibt: „Die Iglhaut kam aus dem Untergrund. Die Rolltreppe trug sie hinauf. Die Nacht, wie blank poliert.“ Dabei begeisterten mich auch Sätze wie „Übertreibung (…) ist das Rouge auf den Wangen des Alltages“ (s. 9), „Die Musik aus den Telefonlautsprechern ging trotzdem ins Bein, in ihrer Ferse wippte eine Party, an der sie gar nicht teilnehmen wollte“ (S. 17),, „Das Lesen und das Leben sind sich in vielem gleich (….) Kein Wunder, trennt sie nur ein Buchstabe“ (S. 220) oder „Erst wenn die letzte Gurke geschnitten ist, das letzte Brot geteilt und die letzte Tomate eingekocht, werdet ihr merken, dass soziale Netzwerke nicht satt machen“ (S. 120)
Die Figuren und die Geschichte mögen auf den ersten Blick gar kein Potential für einen Roman haben. Zu diesem Schluss kommt zumindest die Schriftstellerin, die im obersten Stock des Hauses wohnt, händeringend nach einem neuen Romanstoff sucht und versucht, diesen in der Hausgemeinschaft zu finden. Sie spioniert den anderen nach, recherchiert, beobachtet, um am Ende entnervt aufzugeben, denn „Das Leben hier ergab einfach nichts“. Ganz anders Katharina Adler, die genau über diese angeblich so ereignislose Hausgemeinschaft einen so wunderbaren, warmherzigen und kurzweiligen Roman geschrieben hat. Sie fängt auf wunderbare Weise die Schönheit des Unspektakulären ein, ermöglicht Leserinnen und Lesern sich wiederzufinden.
Dabei entwickelt für mich die Iglhaut tatsächlich die größte Strahlkraft. Auf den ersten Blick hin ist sie nach außen eine stachelige, ruppiger Person, die gerne für sich ist und ihre Unabhängigkeit schätzt. Auf den zweiten Blick offenbart sich ihr warmherziger Kern, die ein feines Gespür für ihre Mitmenschen und Umgebung hat.
Für mich haben viele Passagen des Romans daran erinnert, dass man sich nicht vom ersten Eindruck eines Menschen leiten lassen sollte. Wie bei der ruppigen Iglhaut lohnt sich immer der zweite Blick, um den wertvollen Kern hinter einer harten Schale nicht zu verpassen. Auch erinnert der Roman daran, dass jedes Leben eine Geschichte birgt, die erzählt werden kann, so wie es Katharina Adler getan hat. Oder wie es Holger Heimann in seiner Rezension für den WDR geschrieben hat „Sie wirft ein warmes Schlaglicht auf ganz gewöhnliche Leben und bringt sie alle zum Strahlen“.